Der Epochenbruch von 1945 Zeit der widerstreitenden Gefühle

Fachzeitschriften blicken zurück auf das Kriegsende vor 70 Jahren. Es ist keine deutsche Nabelschau geworden.

Nach 1914 nun also 1945. Die diesjährige Gedenkwelle rollt schon durch die Museen, Buchläden und Zeitungsstände. Zwei Studien, die einen umfassenden Blick auf das damalige Geschehen werfen, liegen bereits vor: „Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950“ des britischen Schriftstellers Keith Lowe (siehe die Rezension im „Presse“-Spectrum vom 7. Februar) sowie das von der internationalen Kritik hochgelobte „'45. Die Welt am Wendepunkt“ des niederländischen Starpublizisten Ian Buruma, den „Presse“-Lesern als regelmäßiger Gastkommentator bestens bekannt (siehe auch seinen nebenstehenden Beitrag).

Und natürlich haben sich auch die historischen Fachmagazine bereits des Themas 1945 angenommen. „Zeit-Geschichte“ hat sich längst als von anerkannten Autoren geschriebene, gut gemachte, sorgfältig redigierte und illustrierte Fachzeitschrift einen Namen gemacht. Diese Qualitäten zeigen sich auch in diesem Heft (1/15). Der renommierte Zeithistoriker Norbert Frei von der Uni Jena führt in diese Zeit des Epochenbruchs ein, in der die Welt zwischen Triumph und Niederlage, Rausch und Ernüchterung, Hass und Hilfsbereitschaft, Rache und Vergebung, Lebensfreude und Todessehnsucht schwankte: eben eine Zeit der „großen Gefühle“.

In diesem Heft finden wir eine Reihe außergewöhnlich instruktiver, gescheiter Beiträge zu vielen Teilaspekten des damaligen Geschehens: etwa zur massenhaften Vergewaltigung von Frauen durch Soldaten der Besatzungsmächte (1,9 Millionen Leidtragende allein in der sowjetischen Besatzungszone, aber auch französische, amerikanische und – am wenigsten – britische Soldaten schändeten deutsche und österreichische Frauen) oder ein Aufsatz zum Schicksal der Geflüchteten, Vertriebenen, Heimat- und Obdachlosen (im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit wurden in Europa bis zu 85 Millionen Menschen entwurzelt). So richtig fassbar und nachvollziehbar wird das Schicksal der Vergewaltigten und Entwurzelten für die Nachgeborenen aber vermutlich erst durch die Lektüre eindringlicher Zeitzeugen- und Opferberichte.

Was an diesem „Zeit-Geschichte“-Heft ebenso wie am Aprilheft des Geschichtsmagazins „Damals“ (4/2015), das sich schwerpunktmäßig ebenfalls dem „Kriegsende 1945“ widmet, gefällt, ist, dass beide Publikationen keine deutsche Nabelschau vornehmen, sondern auch andere europäische Länder untersuchen: die Sowjetunion, Frankreich, die Niederlande, Italien oder das tragische Schicksal schwarzer GIs nach ihrer Heimkehr in die USA.

„Damals“ bietet zwei besondere Gustostückerln: Wlodzimirz Borodziej, mit Wien verbundener Zeithistoriker der Uni Warschau, wirft einen Blick auf seine 1945 „enthauptet“ dastehende Heimat: fünf bis sechs Millionen Ermordete während der Nazi-Besatzung; von einst 3,5 Millionen polnischen Juden waren 1945 gerade noch zehn bis 15 Prozent am Leben; ermordet auch ein großer Teil der polnischen Elite. Dazu fast völlig zerstörte Städte wie Warschau, eine „Westverschiebung“ des ganzen Landes. Heinz A. Richter von der Uni Mannheim wiederum erzählt den „Krieg nach dem Krieg“ in Griechenland. Denn nach der nationalsozialistischen Terrorherrschaft ging in Griechenland der Bürgerkrieg zwischen Rechten und Kommunisten los, der bis 1945 weitere 55.000 Menschenleben forderte. Gar nicht gut weg kommt in Richters Analyse übrigens der britische Premier Winston Churchill. Die Griechenland-Politik des heuer aus Anlass seines 50. Todestages viel gewürdigten Engländers dürfte zu dessen großen Schwachpunkten gehören.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.04.2015)

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