Rätseln über das „Stasi-Kalifat“ Was will der Islamische Staat?

In Denkfabriken und Publikationen wird derzeit über Motive und Ziele der Terrormiliz gegrübelt: weltliche oder religiöse?

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), die vor einem Jahr nur Vormarsch, Eroberung und siegreiche Schlachten kannte, macht neuerdings andere Erfahrungen. Die Bomben der von den Amerikanern angeführten Anti-IS-Allianz haben bereits an die 2000 der Terrorkrieger getötet und die Infrastruktur im Kalifat zerstört. Im Irak eroberten die Streitkräfte gemeinsam mit schiitischen Kampfgruppen Tikrit zurück und nahmen dem IS bis zu 30 Prozent des Territoriums, das er schon kontrolliert hatte, wieder ab. Die westlichen Länder wie zuletzt Deutschland verschärfen ihre Terrorismusbekämpfungsgesetze, um den Strom der Gotteskrieger zum selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi auszutrocknen.

Für viel moslemische Fanatiker in Europa und anderswo in der Welt bleibt der IS trotzdem attraktiv. Das Kalifat zieht sie magisch an, obwohl es mittlerweile genug glaubwürdige Berichte gibt, wie grausam es dort bisweilen zugeht; der IS wirbt im Internet ja selbst mit Enthauptungen. Mittlerweile wird in allen möglichen Denkfabriken und in zahlreichen Publikationen analysiert, was denn dieser IS überhaupt darstellt und warum er diese Attraktivität ausübt.

Dem „Spiegel“ fielen die Aufzeichnungen des im Jänner 2014 getöteten Samir Abdel al-Mohammed al-Kheleifawi alias Haji Bakr in die Hände, die das Nachrichtenmagazin vor einer Woche seiner Leserschaft präsentierte. Er war Geheimdienstoberst in der irakischen Luftabwehr während der Herrschaft Saddam Husseins, schloss sich dann dem sunnitischen Widerstand gegen die US-Besatzung an, aus dem später der IS hervorging. „Spiegel“-Autor Christoph Reuter sieht Haji Bakr als Architekten des alles durchdringenden Spitzelsystems, das der IS im eigenen Herrschaftsbereich errichtete, er schreibt von einem „Stasi-Kalifat“. Laut Reuter dienen „Scharia, Gerichtsbarkeit, verordnete Frömmelei nur einem einzigen Ziel: Überwachung und Beherrschung“. Auch seien es Haji Bakr und andere frühere irakische Geheimdienstoffiziere gewesen, die Abu Bakr al-Baghdadi 2010 zum Emir und 2014 dann zum Kalifen gemacht hätten. Demnach wäre der IS in erster Linie ein politisches Konstrukt einstiger irakischer Geheimdienstler, das sich nach außen hin halt religiös-fundamentalistisch präsentiert.

Eine solche – gleichsam weltlich-technokratische – Erklärung des Geschehens wird bei anderen Analytikern auf scharfen Widerspruch stoßen. Das US-Magazin „Atlantic“ fragte in seiner Märzausgabe ebenfalls in einem langen Essay: „Was will der IS wirklich?“ Nach monatelangen Recherchen kam Autor Graeme Wood zum Ergebnis, dass der IS keineswegs eine Ansammlung von Psychopathen sei, sondern eine Bewegung, die festen religiösen Grundsätzen folge, wobei der Glaube an die kommende Apokalypse eine Hauptüberlegung ist. Wood warnt vor westlicher Überheblichkeit: „Dass religiöse Ideologie in Washington oder Berlin keine Rolle spielt, heißt noch nicht, dass sie in Raqqa oder Mossul irrelevant ist.“

Eschatologie, also die Lehre von den letzten Dingen, ist ein „fundamentaler Aspekt der IS-Ideologie“ heißt es auch in einem aktuellen Forschungsbericht des Nato Defence College in Rom. Vor allem der Messianismus dürfe nicht unterschätzt werden: „Gerade er erklärt, warum der IS für junge Araber und Europäer so attraktiv ist. Für diese aufkeimenden Kämpfer sind die blutigen Kämpfe zwischen dem IS und seinen Gegnern im Norden Syriens kein zufälliges Ereignis, sondern der Beginn der Endschlacht zwischen den Muslims und ihren Feinden: den Armeen von ,Rom‘.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2015)

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