Wenn Bürger keine Bürger sind, sondern nur Untergebene

In der Berliner Zeitschrift "Osteuropa" benennen Experten klar, wer im Konflikt mit der Ukraine Aggressor ist: Russland.

Seit das Russland Wladimir Putins das Ringen um die Ukraine – mehr oder weniger versteckt – auch mit militärischen Mitteln austrägt, gibt es keine andere Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum (und weit darüber hinaus), die so konsequent Aufklärung über die Ursachen dieses Konfliktes betreibt wie die von der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde herausgegebene Publikation „Osteuropa“. Und nein, es keine Russland-Hasser oder proamerikanische Agitatoren, die hier Beiträge schreiben, sondern Uni-Professoren, Topwissenschaftler oder Experten für die Region, die wissen, worüber sie schreiben. Russland wird in so gut wie allen Fällen als das benannt, was es in diesem Konflikt ist: der Aggressor.

In Heft 3/2015 zeichnet Jan Claas Behrends vom Potsdamer Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung nach, wie Gewalt auch nach dem Kollaps der Sowjetunion in Russland ein wesentliches Element blieb, um politische und wirtschaftliche Konflikte zu lösen: „Die Anwendung militärischer Gewalt zur Lösung politischer Konflikte veränderte die politische Lage grundlegend“, schreibt Behrends. Auch im neuen Russland seien die Staatsbürger ihrem Staat, seinen Organen oder auch kriminellen Banden weitgehend schutzlos ausgeliefert, sie seien nie zu Bürgern im westlichen Sinn geworden, „sondern Untergebene, Bittsteller und oft auch Opfer“. Aber, kommt bei solchen Feststellungen immer gleich der Einwand, wenn die Bevölkerung vom Staat so gegängelt wird, warum ist Putin dann so populär? Behrends rät, Putins konstant hohe Umfragewerte mit Vorsicht zu genießen, „seine Popularität entspricht vermutlich mehr der Kontrolle der Medien als seinen politischen Leistungen“.

Lew Gudkow, Russlands führender Meinungsforscher, untersucht in Heft 4/2015 Ursache und Funktion des nachgerade beispiellosen Antiamerikanismus in seiner Heimat. Die Wurzeln sieht er in einer Verschmelzung historischer antiwestlicher Ansichten mit der kommunistischen Ideologie, einem nationalen Minderwertigkeitskomplex und heftigen Neidgefühlen gegenüber den USA. Sobald das Regime in Moskau in eine innere Krise gerate, „nehmen die antiwestliche Rhetorik im Allgemeinen und der Antiamerikanismus im Besonderen dramatisch zu“. Diese Antistimmungen seien Bestandteil der politischen Prozesse in Russland, aber „auch ein integraler Bestandteil der kollektiven Sozialisation der Bevölkerung“.

Ilja Jablokow von der Universität Leeds geht im selben Heft den von oben bewusst geschürten Verschwörungstheorien in Russland nach. In Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt sieht er drei Gründe, warum das Putin-Regime mit antiwestlichen Verschwörungstheorien operiert: „Erstens: Wer die Ereignisse in der Ukraine als vom Westen geplanten Staatsstreich interpretiert, macht jeden Versuch zunichte, sie als Absetzung eines korrupten Regimes durch die erzürnte Bevölkerung zu rechtfertigen. Zweitens: Antiwestliche Verschwörungstheorien sind zu einer bequemen Methode geworden, Russlands Aktivitäten in der Ukraine zu legitimieren. Drittens: Die proukrainische Haltung liberaler Oppositioneller in Russland war für Nationalisten und Kreml-treue Publizisten ein willkommener Anlass, ihre Angriffe auf Kritiker der Putin-Politik zu verstärken.“

Dringend empfohlen sei auch noch der Aufsatz von Professor Stefan Creuzberger (Universität Rostock), in dem er die Behauptung, 1990 habe der Westen Moskau zugesagt, die Nato nicht nach Osten zu erweitern, ins Reich der Legenden verweist: „Es hat kein bindendes Versprechen des Westens gegeben, auf eine Ausweitung der Nato-Strukturen jenseits der deutschen Ostgrenze zu verzichten.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2015)

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