Viel zu viele Zündler schleichen rund um das Schlachthaus Syrien

Wie sich der Bürgerkrieg in dem geschundenen Land in einen erbitterten Konfessionskrieg gewandelt hat.

Das Regime wirft Fassbomben auf Einwohner von Aleppo. Die Regimegegner antworten mit Kanistern, gefüllt mit Sprengstoff und Schrapnellen. IS-Kämpfer vergewaltigen jesidische Frauen, machen sie zu Sklavinnen und verkaufen sie. Die Sicherheitsdienste des Regimes foltern ihre Opfer in einem geradezu industriellen Ausmaß (wie auch die aufwühlende Dokumentation „Vermisst! Syriens geheime Kriegswaffe“ im Syrien-Themenabend des Kultursenders Arte am 3.11. zeigte). Beide Seiten belagern Dörfer und verüben Massaker: Alltagsszenen aus dem Schlachthaus Syrien, wie sie im jüngsten Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission der UNO beschrieben werden – und wie sie der frühere Nahost-Korrespondent des US-Senders ABC, Charles Glass, in der neuesten Ausgabe der „New York Review of Books“ zusammenfasst.

Glass beschreibt den schon bald fünf Jahre andauernden Bürgerkrieg in Syrien als „apokalyptisches Ringen um Dominanz und Überleben“. Ein Ringen, das seit 2011 mindestens 320.000 Menschenleben gefordert, mehr als elf Millionen (von einst 22 Millionen) zu Flüchtlingen im In- und Ausland gemacht und das ganze Land in eine Trümmerlandschaft verwandelt hat. Was diesen Bürgerkrieg aber so langwierig und scheinbar unlösbar macht, ist die offene oder versteckte Einmischung ausländischer Akteure. Gemeinsames Interesse von Amerikanern, Briten, Franzosen, Türken, Saudis und Israelis war es zunächst, das Assad-Regime loszuwerden und damit auch das syrisch-iranische Bündnis zu beenden. „Aber statt den iranischen Einfluss in Syrien auszuschalten, haben sie ihn vervielfacht“, schreibt Glass – und dadurch erst recht die Todfeindschaft zwischen Sunniten und Schiiten angefacht.

„In dem Augenblick aber“, schreibt der britische Nahost-Experte Hugh Roberts in der Herbstnummer von „Lettre International“, „in dem die bewaffnete Revolte in Syrien zum Dschihad wurde, musste sie als explizit sunnitisches Anliegen enden und im Konfessionskrieg versinken.“ An dieser Wandlung des Bürger- in einen Religionskrieg trägt laut Roberts natürlich auch das Assad-Regime Mitschuld, aber „die Hauptverantwortlichen für den Vormarsch der Dschihadisten waren die externen Akteure, die sie unterstützten, finanzierten und mit Waffen versorgten“. Auch Roberts nennt da Saudiarabien, Katar, Kuwait, die Türkei, den Iran, Russland – „was wir aber in Frage stellen müssen, das ist die Politik des Westens“.

Roberts argumentiert, dass die Westmächte mit ihrer Forderung nach einer Entfernung Assads dessen Zukunft zur zentralen Frage aufwerteten, damit aber eine politische Lösung, um die Gewalt zu beenden, unmöglich gemacht hätten. Und Roberts berichtet von Dokumenten, laut denen der US-Militärgeheimdienst DIA bereits 2012 den Aufstieg des Islamischen Staates vorausgesehen hat – und an dieser Entwicklung anscheinend sogar interessiert gewesen sei. Offenkundig hätten westliche Geheimdienste den IS als „nützliche Hilfstruppen beim Feldzug gegen Assad“ angesehen.

Was aber heute gegen den IS tun? Luftschläge halten ihn nicht auf, die korrupte und demoralisierte irakische Armee ebenso wenig, westliche Soldaten in den Kampf zu schicken hielte Roberts für eine Torheit. Aber auch der Gedanke, eine Entfernung Assads könnte den Sieg über den IS begünstigen, ist seiner Meinung nach „reines Wunschdenken, ein Tagtraum von Spinnern“. Ein Ausweg, den er für das geschundene Land sieht: Bildung einer nationalen Einheitsregierung unter Einbeziehung der gewaltfreien Oppositionskräfte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2015)

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