Mit Stehsätzen wird sich Europas Multikrise nicht lösen lassen

Wird es die jetzige EU Ende des Jahres noch geben? Renationalisierung wäre kein Aus-, sondern ein Irrweg.

Eurokrise, Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Nord-Süd-Kluft und Ost-West-Entfremdung, britische Absetzbewegungen, Ukraine-Konflikt, Umgang mit russischem Rambo Wladimir Putin, Abkehr vom Multilateralismus und Rückkehr zu nationalstaatlichen Brachiallösungen: Von einer Multikrise der Europäischen Union zu sprechen ist da schon fast eine Untertreibung. Tatsächlich kann man bereits Wetten darauf abschließen, ob es die EU in ihrer jetzigen Form Ende dieses Jahres überhaupt noch geben wird. Auch ist endgültig klar, dass die EU kein Selbstläufer ist, ja nie war.

Viele Publikationen in Europa befassen sich derzeit mit der europäischen Multikrise. Auch das Märzheft der Berliner Zeitschrift „Internationale Politik“ analysiert die „Stürmischen Zeiten“ – klarerweise aus einer sehr deutschen Sicht der Dinge heraus. Angela Merkel wird da etwa als „letzte Europäerin“ beschrieben, deren vorrangiges Ziel es sei, die Einheit der EU zu wahren. Ja, gewiss, denn es ist ja auch gerade die Exportgroßmacht Deutschland, die wie kein anderes Land von der EU profitiert hat und profitiert. Insofern liegt es auch im deutschen Hauptinteresse, den Zusammenhalt dieser EU so gut es geht weiter zu gewährleisten.

Aber wie die Multikrise überwinden und die Bruchlinien kitten? „Das beste Rezept gegen die grassierende Europa-Dämmerung ist eine überzeugende Politik, die die Fliehkräfte der EU abfedert“, heißt es in einem der Beiträge. No na ned, wie der Wiener sagt. Mit Stehsätzen wie diesen werden die Deutschen vermutlich nichts weiterbringen und die europaweit zunehmenden Zweifel an ihrer Führungsrolle nicht zerstreuen können. Das Problem ist doch, dass sich die EU in den vergangenen Jahren immer mehr zum Elitenprojekt entwickelt hat. Die Eurokraten hecken immer neue Regeln für das Leben der Unionsbürger aus – und diese fühlen sich von Brüssel immer mehr bevormundet (Stichwort Glühbirnenverbot).

Die Konsequenzen sind Vertrauensverlust und die wachsende Entfremdung der Untertanen von dieser EU. Die Erklärungsversuche und die Fürsprache von Politikern, Diplomaten, Beamten und Journalisten für das allen doch so nutzbringende Brüsseler Treiben wird nur noch als nichtssagendes Blabla wahrgenommen.

Nur, was bringen uns Lethargie oder Empörung, innerer Rückzug oder lautstarker Protest über diese EU? Liegt das Heil für Europa und seine Menschen tatsächlich in einer Renationalisierung: „Vorwärts – zurück in die Vergangenheit!“, wie uns die Rechtspopulisten und Dauerempörten weismachen wollen? Stehsatz oder nicht: Es ist unbestreitbar, dass große Teile Europas gerade durch die Zusammenarbeit der Nationen eine beispiellose Periode des Friedens und des Wohlstandes erlebt haben. Es ist gerade 70 Jahre her, dass dieses Europa eine rauchende Trümmerlandschaft darstellte – und allen Zweiflern sei der Blick in das neue Heft von „Geo Epoche“ (Nr.77) empfohlen, das sich dem Thema „Europa nach dem Krieg. Chaos und Neuanfang 1943–1953“ widmet.

Europas Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg wie ein Phönix aus der Asche war nur möglich, weil große Nationen über jahrhundertealte Feindschaften hinwegsahen und sich die Hände über den Gräbern reichten. Vergessen sind diese alten Feindschaften, die zu Kriegsende und in der Nachkriegszeit noch in vielen Ländern zu grausamen Rachefeldzügen geführt hatten, aber nicht. Der Mensch ist des Menschen Wolf: Es gibt immer Böswillige, die die derzeit schlafenden Wölfe gern wecken würden . . .

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2016)

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