Feinde, überall lauern Feinde . . . Die Paranoia des Viktor Orbán

Kenner Ungarns gehen dem Weltbild des dortigen Premiers auf den Grund. Dieser glaubt an den Siegeszug seines Modells.

Oh ja, es gibt genügend im Ungarn von Viktor Orbán zu kritisieren – genauso wie man in dem rot-schwarz regierten Österreich ohne Mühe eine lange Liste von Missständen anführen kann. Oder in Frankreich. Oder in den USA. Oder . . . Aber Viktor Orbán ist schon ein besonderer Vogel – oder er hält sich jedenfalls für einen solchen. Stimmt es, was der Budapester Politikwissenschaftler László Lengyel in der neuesten Nummer der „Europäischen Rundschau“ (2016/1) schreibt, glaubt Orbán tatsächlich, dass er mit seiner „illiberalen Demokratie“ – angelehnt an russische und türkische Vorbilder – ein Modell geschaffen habe, das drauf und dran ist, einen Siegeszug durch die Welt anzutreten.

Wichtige Kernelemente dieses Orbán'schen Modells sind laut Lengyel: eine scharfe Freund/Feind-Abgrenzung, Verschweißung der nationalen Einheit, Verteidigung der Souveränität, rasche und zweckmäßige politische Gesetzgebung, klares Führungsprinzip und autokratische Autorität, permanenter Ausnahmezustand: „Gestern Moskau und Ankara, heute Budapest und Warschau, morgen Paris, übermorgen Washington. Ihr habt Putin und Erdoğan verflucht, jetzt umarmt ihr sie. Mir habt ihr nicht geglaubt, aber Kaczyński müsst ihr glauben und noch eher Le Pen und schließlich Trump. Eine weltweite Tea Party! Populisten aller Länder, vereinigt euch!“, malt der ungarische Autor ein für viele wohl eher düsteres Szenario.

Noch zwei Punkte aus Lengyels Analyse sind bemerkenswert und vielen nichtungarischen Lesern wohl nicht so bewusst: erstens, wie tief verwurzelt die antiwestlichen, antikapitalistischen und antiliberalen Gefühle in breiten Kreisen der ungarischen Bevölkerung sind („Der Westen hat uns 1920 und 1956 verraten und 1989 hereingelegt.“). Und zweitens, wie paranoid Orbán und seine Umgebung inzwischen geworden sind – überall Feinde, jeder ist verdächtig, allen ist zu misstrauen. Besonders schwerwiegend aber werde Politikerparanoia, schreibt Lengyel, wenn der Politiker sein eigenes Ich zur Weltgröße anschwellen lasse und alle Handlungen auf dem Globus als gegen ihn gerichtete Konspiration empfinde. Orbán wörtlich: „Ungarns riesiges Experiment ist für Europa und die Völker der Welt derart attraktiv, dass sich die heutigen Herrscher zähneknirschend gegen dieses zusammentun.“ Na ja, größere Zusammenrottungen gegen Orbáns Experiment wurden außerhalb Ungarns bisher noch keine gesichtet.

Kristina Koenen rät in ihrer Beschreibung des „Orbánismus in Ungarn“ in der jüngsten Nummer der Berliner Fachzeitschrift „Osteuropa“ dringend zu einer differenzierten Sicht der Dinge und zitiert den vergangene Woche verstorbenen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, der von einem Reporter der „New York Times“ bedrängt wurde, Ungarn als Diktatur zu charakterisieren: „Wenn man offen schreiben, reden und offen widersprechen und auch das Land verlassen kann, ist es absurd, von einer Diktatur zu sprechen.“

Auch sei es falsch, Orbáns Fidesz als rechte Partei einzuordnen: „Das Ausmaß der Eingriffe in die Freiheitsrechte wird im Westen übertrieben, während viel gravierendere Deformationen des gesellschaftlichen Lebens in Ungarn unbeachtet bleiben“, schreibt Koenen, die in diesem Zusammenhang „das sündhafte Ausmaß an Korruption und die maßlose individuelle Bereicherung der Freunde und Genossen des Ministerpräsidenten“ erwähnt. Ihrer Meinung nach „verbindet das Orbán'sche System viel mehr mit der sozialistischen Vergangenheit, als westliche Kritiker ahnen“.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.04.2016)

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