Flüchtlinge, Parallelgesellschaften und demografische Wurzeln

Ein US-Autor hat in Deutschland nachgeforscht, wie die Gesellschaft auf die Flut der Neuankömmlinge reagiert.

Zwischen Willkommenskultur und Fremdenangst, Öffnung der Gesellschaft und Festkrallen an der nationalen Identität schwanken die europäischen Gesellschaften hin und her, manche mehr, manche weniger. Wie verändert sich dieses Europa, nachdem 2015 mehr als eine Million Menschen auf diesen Kontinent geflüchtet sind, einige Hunderttausende in diesem Jahr – und weitere Millionen an den Küsten des Mittelmeers auf eine Überfahrt warten? Das US-Magazin „National Geographic“ schickte den Autor Robert Kunzig nach Deutschland, um diese Frage zu beantworten. Im Oktober-Heft kommt er zu dem Schluss: Bis auf einige unrühmliche Ausnahmen hätten die deutschen Behörden die Flüchtlingskrise gut gemeistert. „Noch überraschender aber ist, dass so viele Deutsche sich persönlich in der Flüchtlingshilfe engagiert haben.“

Kunzig geht nicht blauäugig an die Sache heran. Er schreibt auch: „Das Argument, die deutschen Tore für Flüchtlinge zu öffnen, war humanitärer und nicht wirtschaftlicher Natur. Ein großer Teil der Öffentlichkeit bleibt skeptisch. Die wenigen, die Molotowcocktails gegen Flüchtlingsunterkünfte werfen oder Obszönitäten gegen die Kanzlerin brüllen, sind nur die Spitze des Eisbergs von friedlichen und stillen Deutschen, die in ihren Herzen nicht zu viele Einwanderer im Land haben wollen – vor allem keine muslimischen.“

Der US-Autor beschreibt auch die Schwierigkeiten, Mühseligkeiten und Kosten der Integration. 15 Prozent der Ankömmlinge sind Analphabeten. Die Bundesagentur für Arbeit schätze, dass die Hälfte der Flüchtlinge in fünf Jahren noch immer keinen Job habe.

Aber wovor genau sich die Deutschen fürchten, fragt Kunzig. Es sei Angst vor Überfremdung und Angst vor der Entstehung von Parallelgesellschaften, fand er heraus. Für einen Amerikaner sei das eher schwer zu verstehen, zumal es überall in den USA solche Parallelgesellschaften in Form von Chinatowns, Little Italys oder Little Germanys gebe. „Aber wir wollen so etwas nicht“, sagt ihm die CDU-Rechts-außen-Politikerin Erika Steinbach.

Auch wenn es heuer weniger Flüchtlinge nach Europa geschafft haben, der Druck wird anhalten, ja wird angesichts von Kriegen, Bürgerkriegen, Verelendung oder Naturkatastrophen noch zunehmen. Der Forscher Hartmut Diessenbacher von der Uni Bremen weist in einem Essay in der Oktoberausgabe des Berliner Magazins „Cicero“ noch auf eine bisher zu wenig beachtete Fluchtursache hin – den explosionsartigen Bevölkerungsanstieg in den Krisenländern: „Überall dort, wo die Bevölkerung schneller wächst als die Produktivität der Wirtschaft, herrscht oder droht Überbevölkerung.“ Dann wächst das Heer der Arbeitslosen, häuft sich immer mehr sozialer Sprengstoff an. Und aus dem massenhaften Gefühl der Bedeutungslosigkeit und existenzieller Kränkung gibt es nur zwei Auswege: Kampf um Gerechtigkeit oder Flucht, es bilden sich „Übervölkerungskrieger“ und „Übervölkerungsflüchtlinge“.

Professor Diessenbacher glaubt, dass dieses Problem nur durch Aufklärung, Geburtenkontrolle und eine funktionierende Altersversorgung zu bewältigen sei. Hier müsse die westliche Entwicklungshilfe ansetzen. Dass es funktionieren könne, zeige der Iran, wo zwischen 1986 und 2011 die Fertilitätsrate von 7,2 auf 1,8 Kinder pro gebärfähiger Frau reduziert worden sei. „Wenn wir nicht an den demografischen Wurzeln der globalen Flüchtlingsströme ansetzen, die in den nächsten Jahren noch deutlich zunehmen werden, werden wir alle eine unabsehbare Blutschuld auf uns laden.“

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2016)

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