Gedankenlese

Deutsches Erwachen: Berlins härtere Seite in der Außenpolitik

Mangelnde Selbstachtung und fehlende Ambitionen hätten die deutsche Außenpolitik bisher gebremst. Schluss damit?

Deutschland kann auch anders! Irgendwann einmal platzt selbst den immer so vornehm zurückhaltenden deutschen Spitzenpolitikern der Kragen. Nach einer endlosen Serie von Provokationen, Beschimpfungen, Nazivergleichen und Terrorismusvorwürfen türkischer Regierungspolitiker von Staatspräsident Erdoğan abwärts gegen den Verbündeten Deutschland, gefolgt von Verhaftungen deutscher und deutsch-türkischer Staatsbürger, verkündete Außenminister Sigmar Gabriel letzte Woche eine „Neuausrichtung der Türkeipolitik“: Erste Maßnahmen sind Hinweise auf mögliche Probleme bei Türkeireisen und eine Prüfung, ob die Exportbürgschaften für deutsche Lieferungen in die Türkei ausgesetzt werden sollen. Maßnahmen, die die kriselnde türkische Wirtschaft treffen. Und Berlin hat gewiss noch viel größere Pfeile im Köcher.

Das ist vermutlich die Art von Härte, die der „Zeit“-Journalist Jörg Lau in der Sommerausgabe der Berliner Fachzeitschrift „Internationale Politik“ (IP) fordert. Er plädiert „für eine neue deutsche Außenpolitik in ungewissen Zeiten“ – und bringt diese auf die Formel: Berlin muss außenpolitisch mehr Härte, aber auch mehr Großzügigkeit zeigen. Ungewisse Zeiten: Es geht da nicht nur um den unberechenbaren Egomanen im Weißen Haus; es geht um die bedenklichen antidemokratischen Tendenzen im Nachbarland Polen (ebenso wie in Ungarn); es geht um die neoimperialistische Politik Russlands; und es geht um den Krisenbogen von Rabat bis Kabul: „Die europäische Politik der Assoziation und Erweiterung ist an ein vorläufiges Ende gekommen“, schreibt Lau. „Der ,Bogen der Geschichte‘, der sich immer nur zur Freiheit hinneigt, war eine schöne Illusion.“ Vor allem eine schöne deutsche Illusion.

„Pack mer's Deutschland“, ruft Chefredakteurin Sylke Tempel zum Aufbruch auf, fragt aber auch besorgt, ob Deutschland dafür gut genug aufgestellt sei. Manko dieser IP-Ausgabe ist dabei, dass in dem Heft nur deutsche Autorinnen und Autoren zu Wort kommen. Kann schon sein, dass immer mehr Deutsche die mangelnde Selbstachtung und fehlende Ambitionen endlich hinter sich lassen wollen und sich mit einer aktiveren deutschen Führungsrolle gerade in Europa durchaus anfreunden könnten, wie sie der Politikwissenschafter Jan Techau fordert. Nur, wollen auch die anderen Europäer die Deutschen in einer solchen Führungsrolle sehen?

Hélène Miard-Delacroix, Zeitgeschichte-Professorin an der Pariser Universität Sorbonne, fragt in einem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, ob in der heutigen Bundesrepublik noch etwas von der Weimarer Republik stecke und was von den alten Ängsten der Nachbarn vor den Deutschen geblieben sei.

Ihre Antworten: „Im Unterschied zu Weimar gibt es heute in Deutschland aufgrund einer bewussten Abgrenzung zur Vergangenheit keine Belastung mit Hypotheken aus dem vorherigen Regime, keine fragile sozioökonomische Situation und keine Erosion des Parlamentarismus – die drei Hauptfaktoren für das Scheitern der Weimarer Demokratie.“ Für Historiker sei klar: „Berlin ist nicht Weimar“, die Brüche des heutigen Deutschland mit der Vergangenheit seien unbestreitbar. Aber: „Der Blick der Nachbarn auf Deutschlands Geschichte bleibt bis in die Gegenwart nolens volens unterschwellig von der Angst vor Kontinuitäten gezeichnet.“ Dazu gehöre die Kontinuität des antidemokratischen Denkens. Freilich, eine derartige historische Kontinuität ist gegenwärtig in Polen viel offenkundiger als in der Bundesrepublik.

Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2017)

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