Die russische Sehnsucht nach Dingen, die man nicht kaufen kann

Die kommenden "Wahlgänge" werden die ohnedies schon große Frustration in der Bevölkerung Russlands nur noch steigern.

Mit Riesenschritten nähert sich die russische Wahlsaison – Parlamentswahlen im Dezember, Präsidentenwahlen im kommenden März. Na ja, Wahl ist eigentlich nicht das richtige Wort. Die russische Wählerschaft ist zwar zu den Urnen gerufen, aber Wählen zwischen unterschiedlichen Parteien, Programmen und Persönlichkeiten kann sie nicht. So gut wie alles ist von der herrschenden politischen Klasse vorgegeben, das Wahl- und das Parteiensystem sind nach ihrem Interesse konfiguriert. Und was an Parteien, Personen und Ideen nicht ins System passt, darf sich gleich gar nicht der Wahl stellen.

Aber wie reagiert die russische Bevölkerung auf die Bevormundung, die sie heute wieder über sich ergehen lassen muss? Das Schweizer Weltblatt „Neue Zürcher Zeitung“ hat die gute Tradition, dass sie ihre Korrespondenten, wenn sie in der Regel nach vier Jahren aus einer Hauptstadt abgezogen und weitergeschickt werden, eine Bestandsaufnahme ihres Gastlandes machen lässt: die Beobachtung mehrerer Jahre zusammengepackt auf einer Seite. Im Frühjahr wechselte Markus Ackeret von Moskau nach Peking. Er hinterließ mit dem Text „Der russische Staat als Phantom und Hindernis“ ein großartiges Erklärstück über das heutige Russland.

Ackerets Kernthese: Der russische Staat habe es seit dem Ende der Sowjetunion nicht verstanden, den Graben zwischen Bevölkerung und Obrigkeit einzuebnen und das gegenseitige Misstrauen abzubauen. Die Entwicklungen der Ära Putin hätten das tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat nur bestätigt: „Als klug gilt, wer möglichst wenig auffällt.“ Ackeret schreibt auch von einem „dumpfen Bürokratenstaat, der die Bürger nicht ernst nimmt und vor allem um das eigene Wohl besorgt ist“. Konsequenz – wie einst in der Sowjetunion: „Die Gesellschaft verwirklicht sich privat und beruflich und mischt sich nicht in Politik ein.“ Da der russische Staat nicht als Garant der Sicherheit des Einzelnen auftrete, sondern geradezu als Bedrohung daherkomme, werde dieser Rückzug ins Private zusätzlich gefördert und die Mauer zwischen Obrigkeit und Bevölkerung nur noch höher. Folge: Desillusionierung, Entpolitisierung, vorauseilender Gehorsam, Drücken vor Verantwortung.

Zu sehr ähnlichen Schlüssen kam vergangene Woche der Londoner „Economist“ in einem dreiseitigen „Briefing“ über die momentane Stimmung in Russland. Auch da ist von einer schwer frustrierten Bevölkerung die Rede, von einer „Ära der Stagnation“, wie in den 1970er- und 1980er-Jahren unter Breschnjew. Der gravierende Unterschied zu damals: Viele der kreativen, gebildeten, jungen Russen können heute legal das Land verlassen – und viele wollen das auch tun. „Diese Leute wollen abhauen, weil sie das Gefühl haben, es gebe nichts mehr für sie in Russland.“

Es ist nicht das Geld, das diesen Leuten fehlt. Doch „sie sehnen sich nach Dingen, die sie nicht kaufen können: Anerkennung von Leistungen, Schutz der Eigentumsrechte, Sicherheit im Alltag, ein funktionierendes Gesundheitssystem, eine angemessene Ausbildung für die Kinder. Sie wollen ein Leben, ohne ständig Bestechungsgelder bezahlen zu müssen oder wegen der üblen Laune eines korrupten Bürokraten eingesperrt zu werden.“

Mit den kommenden „Wahlen“ kann sich der Frust in Russland nur weiter vergrößern. Der Sieger steht bereits fest: Wladimir Putin, ob er im März bei der Präsidentenwahl antritt oder nicht. Er hat dieses ganze momentane Herrschaftssystem aufgebaut, also wird sich auch nichts ändern. Die „Fluchtwelle“ aus einem Land der Perspektivlosigkeit könnte noch anschwellen.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.09.2011)

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