Was Österreich ausmacht

Misstrauische, rechte Eigenbrötler, die Haider für einen Charismatiker, Kreisky für raffiniert und Gusenbauer für einen Intellektuellen hielten. Klischees oder doch Selbstbilder?

Einige Anekdoten werden nicht dadurch schlechter, dass man sie öfter erzählt. Diese habe ich schon ein paar Mal wirkungsvoll eingesetzt, um Österreicher zu schocken: Vor etwa anderthalb Jahren, als ich von meiner Redaktion in München gen Wien losgeschickt wurde, verabschiedete mich ein bedeutender Kollege mit dem Satz: „So, und als erstes schreibst du uns eine knackige Nazi-Geschichte.“ Nun sind Nazi-Geschichten, wie im laufenden NSU-Prozess zu erleben ist, derzeit eher in Deutschland zu schreiben und die Behauptung, dass man dort mit der Vergangenheitsbewältigung viel weiter sei als im Nachbarland, ist als Hybris einzuordnen. Mögen Österreicher also mit kritischem Blick auf Deutschland schauen und eindrucksvolle Nazi-Geschichten schreiben – bitte sehr!

Andererseits bin ich Österreich-Korrespondentin und schaue mithin mit kritischem Tunnelblick auf mein Berichtsgebiet. Und weil eine Korrespondentin keine Antworten parat zu haben hat, sondern erst einmal Fragen stellen sollte, frage ich mich seither, was es damit auf sich hat, dass Österreich in Deutschland mit unausrottbaren Klischees belegt ist. Und was dran ist.

Eine kurze Klischeesammlung, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: Die Österreicher sind notorische Weggucker, wenn es um den rechten Rand geht. Seit Metternichs Zeiten sind sie misstrauisch gegenüber Fremden, halten ihre Türen lieber geschlossen, teilen ihre Meinung nur mit ihren Freunden, treffen Gäste lieber auf Bällen als in der eigenen Wohnung – da könnte ja jemand einen kritischen Blick in die eigene Privatheit wagen. Oder eine dezidierte Meinung einfordern. Weil das politische Personal gern als medioker betrachtet wird, werden die heimischen Politiker verachtet – aber selbst mag man sich auch nicht engagieren. Und weil auch die heimische Medienlandschaft als Hort der Provinzialität eingeordnet wird, mag man das, was dort steht, nicht so recht zur Kenntnis nehmen. Selbst wenn die Kritik an den Verhältnissen berechtigt ist.

Die Grünen werden nicht ernst genommen (sie gelten als irgendwie linksradikal), die Rechten unterschätzt (alles Parvenüs), die Neos heruntergemacht (PR-Voodoo), ÖVP und SPÖ gewählt und doch gehasst (Stagnationsmaniker, Postenschacherer). Haider war zwar ein Wahnsinniger, aber ein toller Charismatiker, Kreisky ein raffinierter Hund, Schüssel ein Schlauer, Gusenbauer ein Intellektueller, Klima eine Pfeife, Dörfler ein Bauer und die Burgstaller eine Nette. Und sonst: Sollen bitte andere, vorzugsweise Kritiker von außen, sagen, was falsch und richtig ist und wo es langgeht. Schließlich ist Österreich ein kleines Land mit wenig Einfluss, enthauptet und entmachtet, die echten Eliten sind anderswo, was bleibt, ist bleierne Stille, kaschiert und erlitten als Status quo.

Aber halt: Habe ich hier Klischees beschrieben – oder Selbstbilder, die von den Österreichern eifrig gepflegt und nach außen getragen werden, um sich dort wiederum als Klischees festzusetzen?


Nicht links oder rechts. Pragmatisch. Wie scheuklappenblind also ist dieses Land? Sehr subjektive Eindrücke, kein Faktencheck: Heimatliebe statt Marokkanerdiebe (Wahlkampf Innsbruck). Nehmen Sie doch die Asylwerber von der Saualm mit nach Hause, wenn Sie so ein Gutmensch sind. (Wahlkampf Kärnten). Knüppel aus dem Sack für Asylbetrüger (Wahlkampf Wien). Wir sind die neuen Juden (H.-C. Strache). Angriffe der Systemmedien (Hermann Kandussi beim Ulrichsbergtreffen). Ein Kanzler, der sich dafür rechtfertigen soll, dass es türkischsprachige Wahlwerbung gibt – und auch noch meint, das tun zu müssen. Ein FPÖ-Spitzenkandidat, der zwei Tage vor der Nationalratswahl wie Messias aus dem Kunstnebel steigt und gegen Ausländer, Islamisten und die EU agitiert. Und nach der jüngsten Wahl wird dann tatsächlich darüber gerätselt, ob die ÖVP mit den Blauen über eine Koalition reden wird, oder gar die SPÖ?

Das Trauma der Jahre zwischen 2000 und 2006 ist frisch – und noch nicht aufgearbeitet. Es wird verdrängt, an die Justiz ausgelagert. Der einzig wahre Schockeffekt, der anhält, scheint zu sein, dass sich Wolfgang Schüssel mit seinem Deal nicht an die Spielregeln gehalten hat, der Verräter. Zwar hat sich ein ganzer Untersuchungsausschuss im vergangenen Jahr im Wesentlichen mit den Auswüchsen jener Zeit befasst – doch da ging es nicht um Ideologie, nicht um Lehren aus dem Tabubruch, sondern um dem Missbrauch von Verantwortung und die Sicherung von Pfründen. Aber was wäre gewesen, wenn es für ÖVP plus FPÖ wieder gereicht hätte? Hätte es eine Neuauflage gegeben, weil die FPÖ von heute nicht mehr die FPÖ von damals sein will? Wer hätte da den Ton angegeben, welcher Teufel mit welchem Beelzebub paktiert?

Politisch ist Österreich nicht rechts und nicht links, sondern pragmatisch. Auch die FPÖ-Wähler sind eher nicht rechts und nicht links, sondern pragmatisch, haben aber auch nichts gegen ein bisschen Ausländerfeindlichkeit, und ein bisschen Neonazi-Folklore stört sie auch nicht weiter. Ist ja nur ein Spiel ohne Konsequenzen.

Denn solange es nicht wirklich wehtut, wird die Auseinandersetzung mit rechts nicht gesucht und nicht geführt. Warum auch? Es geht doch auch so. In Deutschland würden regelmäßig ein paar Autonome dafür sorgen, dass H.-C. Strache vor dem Stephansdom nicht ausreden kann. Ein paar mehr Anti-Nazi-Demos, ein Exitprogramm für Aussteiger, ein paar historische Kommissionen weniger und ein paar Empörte mehr könnte auch dieses Land brauchen.

Aber weiter auf der Suche nach Klischees, die zu gefühlter Realität geronnen sind: Die Türen zum Privaten bleiben verschlossen, stattdessen Scheinoffenheit, Salonkultur, permanente Ballseligkeit?

Na ja, die Salons von Döbling und Hietzing repräsentieren beileibe nicht das wahre Leben. Aber eine bessere Gesellschaft, die ihre Wochenenden habituell auf Landsitzen verbringt, Nachwuchs lieber im Schoß der Familie behütet als in die Freiheit der städtischen Szene entlässt und die sich ungern mischt, lernt wenig dazu. Das gemütliche „Uns geht's ja noch gut“ dürfen nur ein paar freakige Künstler und ein paar intellektuelle Zwischenrufer stören.

Der Rest sind Bundesländer, Berge, Touristen, ist Provinz. Die sind weit weg. Zu weit weg, als dass man sie in Wien wirklich hören würde. Die politische Macht sitzt ohnehin eher anderswo: bei den verachteten Politikern, den Gewerkschaftern, den Verbänden, den gelben Blättern. Eine zweigeteilte Gesellschaft kommt dabei heraus, in der jene, die das Geld haben, auf jene (herab)schauen, die die Mehrheit der Stimmen haben und die Stimmung machen. Ob das auf Dauer gut geht?

Was Österreich aber tatsächlich ausmacht? Wahrscheinlich all das zuletzt eher wenig. Denn Selbstbild und Klischees vermitteln sich immer am ehesten durch jene, die in den Metropolen für alle anderen sprechen. Oder nicht sprechen.

Das andere Österreich, das ich erlebt habe, ist ein buntes, bäuerliches, manchmal derbes, aber gern auch stilles Land: ein wunderbares jüdisches Museum in Vorarlberg, unaufgeregte Kommunisten in Graz, in Klagenfurt ein Kabarettist, der im Zweitberuf Politiker ist, in Villach eine Lehrerin, die jeden ihrer Schüler für ein kleines Wunder hält, in Braunau Menschen, die Helfer statt Hitler in dessen Geburtshaus sehen wollen, in Linz eine neue Uni und im Waldviertel ein paar Waldschrate, in Salzburg großartige Künstler und am Wolfgangsee Hoteliers, die mit jedem Fremden ihren Wein trinken. Ein charmanter, blaublütiger Revoluzzer, der sich bei der Anrede „Königliche Hoheit“ am liebsten übergeben würde, und konservative Doyens, die zum Meinungsaustausch mit der Bitte laden, doch scharf, böse und ehrlich zu sein. Kritische Journalisten, die persönliche Nachteile auf sich nehmen, eine Kirchengemeinde, die sich wie ein Mann vor ihre Flüchtlinge wirft, Menschen, die Sand im Getriebe sind und sein wollen.

Alles das ist Österreich, und wenn ich darf, würde ich gern noch ein paar Jahre bleiben. Um die echten Abgründe kennenzulernen und um die Veränderungen zu erleben. Denn ein paar wird und muss es ja sogar im saturierten Wien und seinem selbstvergessenen Politikbetrieb geben. Irgendwann.

zum Autor

Cathrin Kahlweit, geboren 1959, ist Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) für Mittel- und Osteuropa in Wien. Sie hat Politikwissenschaft und Russisch in Tübingen studiert, seit 1989 schreibt sie für die „SZ“. Sie ist auch Autorin zahlreicher Bücher über Politik sowie des Erziehungsratgebers „Pubertäter: Wenn Kinder schwierig und Eltern unerträglich werden“ (2011).
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2013)

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