In Brüssels strenger Kammer

Wir leben in voyeuristischen Zeiten.

Während dies- und jenseits des Atlantiks Vorstadtweiber die Kinos stürmen, um die Verfilmung des Sadomaso-Bestsellers „Fifty Shades of Grey“ zu sehen, werden in der strengen Kammer der Europäischen Union gänzlich andere Unterwerfungsrituale praktiziert – statt Latex, Lack und Leder gibt es im Brüsseler Folterkeller Statistiken, Spreadsheets, und Schuldendienste.

Je länger der coram publico ausgetragene Machtkampf zwischen der neuen griechischen Regierung und ihren europäischen Gläubigern andauert, desto mehr überkommt einen unbeteiligten Beobachter das Gefühl, dass die Staatsschuld der neue Softporno des politisch interessierten Europäers ist. Mit einer Mischung aus Angst und Wollust verfolgt das europäische Bürgertum die jüngsten Wendungen in dem Kammerspiel, die von Medien schonungslos ausgebreitet werden: Gelingt es Wolfgang „Geiz ist geil“ Schäuble, den ungestümen, freiheitsliebenden griechischen Finanzminister, Yanis Varoufakis, mit einer Seidenkrawatte an den Verhandlungstisch zu fesseln? Kann der charismatische Populist Alexis Tsipras der Berliner Domina Angela Merkel die Handschellen entwenden? Wie weit werden die Folterknechte aus Frankfurt ihre monetären Machenschaften treiben, bevor die Schmerzen unerträglich werden? Welches undurchsichtige Spiel verfolgt Jean-Claude Juncker, der Chef des Brüsseler Swingerklubs? Wer schreit als Erster „Ich ergebe mich! Macht mit mir alles, was ihr wollt“? Wir wissen es nicht. Und warten auf die Fortsetzung des prickelnden Abenteuers.

Man könnte diese Faszination für ein gesundes Symptom halten, denn das – im wahren Sinn des Wortes – fesselnde SM-Schauspiel hat zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beigetragen. Man kann die Dinge aber auch negativ betrachten – und darauf hinweisen, dass die Schuldenkrise die EU versaut hat. Oder kann sich jemand künftige Europapolitik ohne Peitsche vorstellen? Für eingefleischte Masochisten mag das eine erregende Vorstellung sein. Für den Rest von uns eher nicht.

michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2015)

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