Die EU hat mit dieser Kommission wieder eine Regierung. Eine, die Fakten schafft, bevor die trägen Mitgliedstaaten ihr Handeln koordinieren können.
Das ist keine auf Verwaltungsaufgaben reduzierte Behörde mehr. Die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker nimmt die Rolle einer europäischen Regierung ein. In der Flüchtlingskrise dringt sie in das Vakuum der zögerlichen Politik der Mitgliedstaaten ein und schafft Fakten: etwa diese Woche durch eine Vereinbarung mit der Türkei. Während sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel ein weiteres Mal an der Frage einer solidarischen Lastenverteilung rieben, schmiedeten Vizekommissionspräsident Frans Timmermans und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn in Ankara eine mögliche Kooperation zur Eindämmung der Fluchtwelle. Der angepeilte Deal konnte vom Gipfel nur noch durchgewinkt werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass Junckers Team die Linie vorgibt und den 28Regierungen nichts anderes übrig bleibt, als den vorgezeichneten Lösungsweg zu gehen. Bereits die Aufteilung von zuerst 40.000, dann weiteren 120.000Flüchtlingen hat die Kommission initiiert. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, José Manuel Barroso, nimmt Juncker eine politische Funktion wahr. Das mag einigen EU-Regierungschefs gar nicht schmecken, aber es ist im Sinn des gemeinsamen Europa eigentlich eine positive Entwicklung.
Wenngleich der Deal mit der Türkei einstweilen ein widersprüchlicher und fragwürdiger ist: Die EU-Kommission zeigt auf, dass eine europäische Politik, die sich nicht ausschließlich an innenpolitischen Befindlichkeiten und nationalen Interessen orientiert, flexibler ist. Ob Griechenland-Krise oder Flüchtlingskrise: Die 28Regierungen – um den deutschen Staatsminister Michael Roth zu zitieren – machen indes eher das Bild eines „wild gewordenen Hühnerhaufens“ als das einer vertrauenswürdigen Führung.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)