Das türkisch-russische Tauwetter ist keine antiwestliche Verschwörung.
Schwarz-Weiß-Analytiker haben bereits eine neue „Achse der Autokraten“ an die Wand gepinselt. Der türkische Präsident treffe Putin, seinen russischen Amtskollegen, in St. Petersburg, um ein Zeichen zu setzen, orakeln sie. Nach dem Putschversuch in der Türkei wende sich Erdoğan vom Westen ab und wieder Russland zu, denn von dort habe er keine Belehrungen zu erwarten.
Diese pseudoschlaue Erklärung greift zu kurz. Denn das türkisch-russische Tauwetter setzte schon zwei Wochen vor dem gescheiterten Staatsstreich ein. Und auch von einem Präsidentengipfel war da schon die Rede. Etwas mehr Gelassenheit wäre angebracht. Anstatt hyperventilierend eine antiwestliche Verschwörung zu wittern, gibt es allen Grund, die Wiederannäherung zwischen der Türkei und Russland wohlwollend aufzunehmen.
Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe am 24. 11. 2015 im syrischen Grenzgebiet schaukelten sich die Emotionen gefährlich auf. Ein direkter Militärkonflikt zwischen Russland und einem Nato-Mitglied schien auf einmal möglich. Realen Schaden fügte der Disput den Wirtschaftsbeziehungen zu, zumal dem türkischen Tourismus. Es dauerte lang genug, bis sich Erdoğan zu einer Entschuldigung für den Tod des russischen Piloten durchrang. Man muss hoffen, dass Putin und er nach St. Petersburg trotz ihrer entgegengesetzten Standpunkte im Syrien-Krieg im Gespräch bleiben. Das kann dem Frieden in der Region nur förderlich sein.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2016)