Wahlbetrug im großen Stil

Österreich ist ein parlamentarisches Entwicklungsland: Dem Wähler wird verheimlicht, was und wen er wählt.

Was sollen eigentlich Neuwahlen bringen? Die Frage scheint von Tag zu Tag mehr berechtigt. Je weniger man sich nämlich daran erinnert, was vor dem „Es reicht!“ des Vizekanzlers passiert ist, und je mehr Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen sich zu einer Karriere als Bundespolitiker berufen fühlen, umso plastischer taucht das bizarre Bild einer Neuauflage der Großen Koalition vor dem geistigen Auge des Bürgers auf.

Anders gesagt: Weil immer mehr Obskuranten – von Fritz Dinkhauser über Hans Peter Haselsteiner bis zum Egohysteriker Hans Peter Martin und den herzigen Nicaraguakommunisten rund um Leo Gabriel – das Parlament mit einer Freak-Show verwechseln, in der sie unbedingt einmal auftreten wollen, wird nach dem 28.September wohl wieder nichts anderes möglich sein als Rot-Schwarz oder Schwarz-Rot.

Man wird und soll alle diese Kandidaturen nicht verhindern, aus demokratiepolitischen Gründen und auch wegen des unveräußerlichen Rechts eines jeden Menschen, sich lächerlich zu machen. Aber man muss alles daransetzen, dass sie nicht erfolgreich sind, weil jede einzelne Stimme für eine der Freak-Truppen eine Stimme für die Fortsetzung der Großen Koalition ist.

Die wirksamste Methode zu deren Verhinderung wäre eine Wahlrechtsänderung gewesen. Nachdem die nicht durchsetzbar war, bleiben eigentlich nur noch klare Koalitionsansagen im Vorhinein.


Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird aber nicht einmal das stattfinden. Weil vom Bundespräsidenten abwärts so gut wie alle politischen Amtsträger dieses Landes, überwiegend Parteiangestellte und sonstige Begünstigte des staatlichen Alimentationssystems und damit so etwas wie Kombilohnempfänger der ersten Stunde, der Meinung sind, dass die Wählerinnen und Wähler aus dem politischen Prozess, so gut es geht, ausgeschlossen werden sollen.

Nicht der Wähler soll über ein Mandat entscheiden, sondern die Partei. Nicht der Wähler soll bestimmen, wer mit wem und mit welchem Programm eine Regierung bildet, sondern die Parteien.

Anders als in den meisten entwickelten Demokratien der Welt geht es in einem österreichischen Wahlkampf nicht darum, klarzumachen, womit man zu rechnen hat, wenn man diese oder jene Partei, diesen oder jenen Abgeordneten wählt. Nein, in der parlamentarischen Bananenrepublik Österreich ist die wichtigste Herausforderung eines Wahlkampfs die Wählertäuschung: Selbst wenn eine Partei genau wüsste, mit wem sie hinterher regieren würde, muss das auf jeden Fall geheim gehalten werden, weil ja sein könnte, dass ÖVP-Wähler, die die Grünen nicht wollen, dann lieber die FPÖ wählen.

Das ist glatter Betrug: Der ÖVP-Wähler, der lieber eine Koalition seiner Partei mit der FPÖ sähe, wird im Ungewissen über die tatsächlichen Absichten gehalten, damit man mit dieser erschwindelten Stimme nach der Wahl machen kann, was man will.


Natürlich haben die Parteistrategen bereits wohlklingende Erklärungen vorbereitet, mit denen sie die vorsätzliche Täuschung des Wählers als Akt der selbstlosen Aufopferung hinstellen: Man könne das der anderen Partei, mit der man koalieren will, nicht antun: Würde zum Beispiel die ÖVP heute öffentlich erklären, dass sie mit den Grünen regieren will, würde das die Grünen zerreißen.

Das zeigt nur, wie verrottet das politische System dieser Republik inzwischen ist. Würde noch ernsthaft Politik betrieben, könnte man sich erwarten, dass jede Partei sich mit dem Wunschpartner auf ein Programm einigt und mit diesem bei der Wahl antritt. Das würde die Splittergruppen, die alles und nichts versprechen können, weil sie ohnehin nichts halten müssen, marginalisieren.

Und wenn weder SPÖ noch ÖVP einen Wunschpartner findet, bedeutet das nur, dass Koalitionsregierungen in diesem Land nicht einmal dann möglich sind, wenn sie sich rechnerisch ausgingen. Das wäre der ultimative Beweis dafür, dass die einzig richtige Antwort auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre ein scharfes Mehrheitswahlrecht ist.

Die Minimalanforderung an die beiden großen Parteien wäre allerdings das Versprechen, nicht wieder eine Große Koalition zu bilden, was immer auch geschehen möge. Denn keine noch so unsichere Minderheitsregierung, die sich zu einzelnen Themen der Unterstützung von vier, fünf Fraktionen versichern muss, könnte in so sinnlosen Kompromissen enden wie die gerade gescheiterte Koalition.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2008)

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