Abgestumpft im Alltagssumpf

Das große Krisengetöse übertönt das leise Knirschen im Gebälk der Institutionen und Strukturen der Republik.

Früher hätte einen so etwas in höchste Alarmbereitschaft versetzt: Französische Politiker und Diplomaten reden derzeit nicht wirklich gut über ihr deutsches Gegenüber. Kleingeistige Buchhalter seien sie, die keinen Sinn für das Große und Ganze, keine Vision für Europa hätten und sich deswegen als Hauptbremse auf dem Weg aus der Krise erwiesen. Umgekehrt fühlen sich die Deutschen über den Tisch gezogen, sie haben das Gefühl, dass sie wieder einmal zahlen müssen, während die anderen – und eben vor allem die Franzosen, die sich ihr Griechenland-Bankenrettungspaket von den Nachbarn zahlen lassen – die großen Reden schwingen.

Vermutlich war der Zusammenhalt der EU noch nie so stark gefährdet wie dieser Tage, aber man gewinnt nicht den Eindruck, dass das die Menschen besonders aufregt. Ist halt so, und wenn man nicht zu viel Zeitung liest, weiß man es eh nicht.

Das Phänomen, dass eine schwere Krise– und die gegenwärtige erlebt schon ihr drittes Jahr – zu Abstumpfungsreaktionen führt, ist auch im historischen Vergleich ganz gut belegbar. Die Billionen- und Milliardensummen, mit denen da in der öffentlichen Auseinandersetzung jongliert wird, sind so weit außerhalb des Vorstellungsvermögens des einzelnen Bürgers, dass sich irgendwann zwangsläufig so etwas wie ein Unwirklichkeitsvorbehalt einstellt. Es handelt sich dabei in erster Linie um einen Selbstschutzmechanismus: Würde man täglich versuchen zu verstehen, was das alles wirklich bedeutet und bedeuten kann, hätte man keine ruhige Sekunde mehr.

Das große Hintergrunddröhnen der Krise führt naturgemäß dazu, dass andere schrille Töne wie sanfte Melodien der Normalität aufgenommen werden. Die katholische Kirche ist mit einiger Sicherheit eine der Profiteurinnen dieser Entwicklung: Wären die Fälle sexuellen Missbrauchs und des teilweise inakzeptablen Umgangs der offiziellen Stellen damit nicht in der Krise passiert, wäre der Sturm bei Weitem nicht so schnell abgeebbt.

Auch im kleinen Österreich fehlt es nicht an Beispielen dafür, dass das große Krisengetöse das Knirschen im Gebälk der Institutionen und Strukturen übertönt: Die Schul- und Bildungsdiskussion ließe sich unter anderen Rahmenbedingungen nicht so leicht abwürgen, wie das derzeit der Fall ist, die Entwicklung bei den Österreichischen Bundesbahnen, die seit Jahrzehnten ein Griechenland im Kleinen sind, müsste längst zu öffentlichen Aufständen führen. Dass sich die nächste Große Koalition, die angetreten ist, die großen Strukturreformen für das Land in Angriff zu nehmen, nicht einmal traut, über eine Reform des Föderalismus überhaupt zu sprechen, müsste ein Dauerthema sein.

Am schlimmsten freilich steht es um die Medien selbst. Was im Netzwerk zwischen dem Bundeskanzleramt, dem Wiener Rathaus, der Familie Dichand und den Gebrüdern Fellner an Millionenbeträgen verschoben wird, ist eigentlich atemberaubend. Aber es gehört inzwischen zur Realität, und angesichts der Aussicht auf den Totalzusammenbruch der europäischen Wirtschaft ist es auch wieder nicht so schlimm, oder?

Über Pfingsten, hört man, verhandelt die Raiffeisengruppe, der zweite große Spieler in diesem Spiel der Abhängigkeiten und Gefälligkeiten, mit der deutschen WAZ über den Rückkauf der Anteile am „Kurier“ und an der „Kronen Zeitung“. Sollte stimmen, was die Gerüchte sagen, dass dann Raiffeisen 100Prozent am „Kurier“ und eine Sperrminorität an der „Kronen Zeitung“ hätte, träte eine Situation ein, die in jeder entwickelten Demokratie nördlich der Sahara unhaltbar wäre.


No na, sagen an diesem Punkt viele, und was ist mit der Medienmacht des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi? Besser ließe sich das oben beschriebene Phänomen nicht dokumentieren: Wir sind inzwischen so weit, dass wir ein System, das auch nicht viel ärger wäre als jenes, für das Silvio Berlusconi steht, für kein wirkliches Problem halten.

Da könnte man doch gleich einen Schritt weiter gehen und eine Lanze für den alten Italiener brechen: Im Unterschied zu Dichand und Konrad regiert Berlusconi immerhin selbst.

Das gesellschaftliche Radarsystem ist ganz auf die großen Krisenbomber ausgerichtet und übersieht zusehends die kleinen Provinzialitäts- und Schamlosigkeitsjets, mit denen darunter permanent der Luftraum des Zumutbaren verletzt wird.

Leben mit dem schwachen Euro Seite 1
Sachwerte schlagen Papiervermögen Seite 2


michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2010)

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