Mehr oder weniger Europa ist nicht das Ende der Welt

Die Antwort auf die Krise wäre wohl ein anderes Europa, das bereit ist, auf das Totschlagargument der Alternativenlosigkeit als Zwangsmittel zu verzichten.

Die Eurokrise ist nicht nur eine Währungs- und Staatsschuldenkrise. Diese Krise ist eine, die der ursprünglichen Bedeutung des griechischen(!) Wortes „Krisis“ sehr nahekommt: Entscheidungssituation. Angesichts der Eurokrise und ihrer offensichtlichen desintegrativen Dynamik, die sich in dem Slogan „Unser Geld für unsere Leute“ manifestiert, scheint es tatsächlich nur zwei mögliche Entscheidungen zu geben: mehr Europa oder weniger Europa.

Weniger Europa hieße zu akzeptieren, dass die gemeinsame europäische Währung eine Fehlkonstruktion war, weil sie eingeführt wurde, ohne die unabdingbaren Voraussetzungen für ihr Funktionieren – wirksame Mechanismen zur Harmonisierung der an ihr beteiligten Volkswirtschaften in einigen wesentlichen Aspekten – sicherzustellen. Also: Aufgabe der gemeinsamen Währung, allenfalls ein neuer Währungsverbund von Staaten, die bereit und in der Lage sind, die notwendige volkswirtschaftliche Kohärenz zu gewährleisten.

Mehr Europa würde bedeuten, diese Voraussetzungen jetzt nachträglich zu schaffen, indem man die Europäische Union in einen Bundesstaat mit einer zentralen Regierung umbaute, der auf ähnliche Weise als Transferunion fungierte, wie das schon heute auf dem föderalistischen Prinzip basierende Nationalstaaten wie Österreich oder Deutschland tun. Also: Vereinigte Staaten von Europa.

Es gibt für beide Varianten gute Argumente. Das zu akzeptieren, wäre bereits ein wesentlicher Fortschritt in einer Debatte, die fast schon aus Tradition streng ideologisch geführt wird: Wer für die Beendigung des Euro-Experiments plädiert, wird im korrekten europäischen Diskurs als böser Nationalist gebrandmarkt; in der österreichischen Spezialdiskussion muss er damit rechnen, als Sympathisant oder aber als nützlicher Idiot der Strache-FPÖ entlarvt zu werden. Im Gegenzug werden die Anhänger der Vereinigten Staaten von Europa als Anhänger eines Brüsseler Zentralregimes verunglimpft, das man am ehesten mit der Sowjetunion vergleichen könne; die in den einschlägigen Onlineforen verwendete Kurzbezeichnung lautet EUdSSR.

Hinter dem Desiderat der Vereinigten Staaten von Europa steht die Idee, den Nationalstaat zu überwinden, dessen Definition durch Abgrenzung man als Ursache für die beiden großen Kriegskatastrophen Europas hält. Und man verbindet damit die Chance, dem grausamen neoliberalen Wettbewerbsdruck durch das Etablieren eines europäischen Sozialstaats etwas entgegenzusetzen.Dieser Wunsch ist respektabel, aber erstens muss man ihn nicht teilen, und zweitens ist er utopisch.

Es stimmt: Die USA wurden von Menschen gegründet, die vor eben diesen negativen Aspekten des Nationalstaats geflohen sind. Damals bestanden die Herrschenden auf dem Nationalstaat, weil er ihre Freiheit auf Kosten der Freiheit ihrer Bürger sicherte. Heute plädieren die herrschenden Eliten für die Vereinigten Staaten von Europa, weil sie fürchten, dass ihre Freiheit zu agieren von den Bürgern eingeschränkt wird. Das deutet schon an, warum sich diese Idee in Europa, wenn überhaupt, nur in einem ernsthaften Entwicklungsprozess verwirklichen ließe, samt Neudefinition des Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten.


Was gegen die Durchsetzung eines europäischen Bundesstaates spricht, ist also der Umstand, dass es dafür derzeit in keinem Land der Union eine Mehrheit gäbe. Dass man Teile dieses Konzepts – etwa die Schaffung einer Transferunion über den Weg des Rettungsschirms – unter Hinweis auf die krisenbedingte Alternativenlosigkeit an den Bürgern vorbei durchgesetzt hat, wird man einmal als einen der großen Rückschläge für die europäische Idee verstehen.

Die Floskel „Mehr statt weniger Europa“ als Antwort auf die Krise ist hohl. Es geht um ein anderes Europa. Eines, das bereit ist, auf das Totschlagargument der Alternativenlosigkeit als Zwangsmittel seiner Durchsetzung zu verzichten, eines, das bereit ist, falsche Entscheidungen zu revidieren. Wenn es tatsächlich nur die beiden Möglichkeiten – totale Integration oder keine Integration – gibt, dann stehen wir am Anfang vom Ende der EU. Das ist schade, aber es bedeutet nicht das Ende der Welt.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.10.2011)

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