Amerika und Europa im Lifestyle-Krieg

Die Europäer haben ihren Bürgern versprochen, sie dürften gleichzeitig ein Maximum an Freiheit und ein Maximum an Sicherheit konsumieren.

Wenn im laufenden Wahlkampf um die US-Präsidentschaft die Republikaner dem demokratischen Amtsinhaber Barack Obama so etwas wie europäische Umtriebe vorwerfen, fühlen wir uns irgendwie mitangegriffen, aber auch bestätigt: Wir, das heißt der linksliberale antiamerikanische Intellektuellenmedienmainstream, lieben Obama ja gerade dafür, dass er so unamerikanisch ist. Er will mehr Umverteilung und mehr staatlichen Einfluss im Gesundheitswesen, und würde man ihn danach fragen, wäre er wahrscheinlich auch ein großer Freund der österreichischen Sozialpartnerschaft.

Polemische Auseinandersetzungen über die Frage, ob die Welt eher am europäischen oder am amerikanischen Wesen genesen kann, finden freilich nicht nur im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf statt, sondern auch und vor allem in den ideologischen Auseinandersetzungen rund um die aktuelle Staatsschuldenkrise in der Eurozone.

Die verschwörungstheoretische Grunderzählung, nach der es sich bei der ganzen Angelegenheit um einen amerikanischen Feldzug zur Vernichtung des Euro im Interesse des Dollar handelt, wird längst nicht mehr nur in den österreichischen Leitmedien zur Verfestigung des sekundären Analphabetismus („Krone“, „Heute“, „Österreich“, „Ö1“) zum Besten gegeben.

Man kann diese Geschichte auch von angesehenen Vertretern der österreichischen Finanzindustrie hören. Wenn sie stimmt, dann sind die europäischen Wirtschaftsjournalisten Teil dieser Verschwörung. Sie befragen immer nur amerikanische Ökonomen, die den Untergang des Euro vorhersagen, und verschweigen, dass die US-Volkswirtschaft nach den meisten Kennzahlen – etwa Verschuldungsgrad und Haushaltsdefizit – in einem viel kritischeren Zustand sei als die mit Untergangsprognosen versehenen Volkswirtschaften der Eurozone. „Darüber darf ja nicht geschrieben werden“, erklärte kürzlich in einem vertraulichen Gespräch ein Repräsentant der österreichischen Finanzbranche. Man muss ihm hoch anrechnen, dass er darauf verzichtet hat, die „Ostküste“ dafür verantwortlich zu machen.

Als brutalste Kommandoeinheit im transatlantischen Wirtschaftskrieg wurden von den gemeinwohlökonomisch trainierten Aufdeckern des Offensichtlichen schon vor einiger Zeit die Ratingagenturen enttarnt. Als unsicher gilt noch, was die angemessene Reaktion auf dieses ökonomische Kriegsverbrechen wäre: Meditativer Tanz, die Gründung einer europäischen Ratingagentur oder die gesetzliche Festlegung des Zinssatzes durch die Schuldner?

Natürlich haben die aktuellen Auswüchse dieser Debatte einen realen Hintergrund. Amerikaner und Europäer haben tatsächlich unterschiedliche Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem von der Rolle, die der Staat darin spielen soll. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Europa durch die Bündelung aller wesentlichen Voraussetzungen für soziale Mobilität – Bildung, Forschung, Gesundheit, Altersvorsorge – in der Hand des Staates Weltmarktführer in der Produktion von Durchschnitt und Mittelmaß ist.


Man darf diese Position nicht gering schätzen, denn sie bedeutet, dass es keine Region auf dieser Erde gibt, in der jedes neugeborene Kind mit einer so hohen Wahrscheinlichkeit sein ganzes Leben lang von wirklicher Armut verschont bleiben wird. Der Nachteil ist, dass besondere Leistungen, die sich in besonders hohen Einkommen äußern, nicht als wünschenswert erachtet werden, sondern als Verstoß gegen das Solidaritätsprinzip.

Wenn das ein Krieg ist, der sich derzeit zwischen Europa und den USA abspielt, dann ist es kein Wirtschafts-, sondern ein Lifestyle-Krieg. Lebensstile sind Geschmacksfragen. Will man mehr Sicherheit oder mehr Freiheit? Riskiert man für die Aussicht auf wirklichen Wohlstand auch Perioden wirklicher Armut? Dass die Europäer sich entschieden haben, ihren Bürgern die Gleichzeitigkeit von maximaler Freiheit und maximaler Sicherheit zu garantieren, ist aus der Wiederwahlperspektive gut verständlich. Der Umgang mit der Tatsache, dass dieses Versprechen unerfüllbar ist, stellt allerdings für die Zukunft eine gewisse Herausforderung dar.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.01.2012)

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