Die Macht der Parteien und der Geist der Gesetze

Österreichs Parlamentarier fordern mehr Ressourcen und mehr Bedeutung. Sind sie bereit und in der Lage, sich aus der Gängelung der Parteien zu befreien?

Diese Woche war eine Gruppe von Doktoranden und Wissenschaftlern des Göttinger Instituts für Demokratieforschung auf Wien-Besuch. Sie waren überrascht von der schlechten Stimmung, in der sie ihre Gesprächspartner aus Politik, Medien und politischen Wissenschaften antrafen. Das Ansehen von Politik und Politikern sei zwar europaweit nicht besonders hoch, Österreich bilde aber dennoch eine Ausnahme, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Stärker als das empirische Faktum eines signifikant geringeren Vertrauens, das die österreichischen Bürger im Vergleich mit anderen europäischen Nationen der politischen Klasse entgegenbringen, beunruhigte die Göttinger Demokratieforscher der latent depressive Grundton, in dem ihre österreichischen Gesprächspartner die Lage beschrieben.

Nun, warum sollten die politischen Auskenner in der schönen Wienerstadt eine andere Gemütsfärbung aufweisen als die hier wirkenden Kellner, Taxler und Fiaker? Der Österreicher ist unabhängig von Bildungsstand und sozialem Status ein Experte in der Beschreibung abendländischer Untergänge, und der politische Betrieb, der an diesem Wochenende in die Sommerpause geht, liefert dafür reichlich Material. Für jemanden, der mit dem gasförmigen Aggregatzustand der politischen Befindlichkeitsprosa in Österreich nicht vertraut ist, kann so etwas schnell einmal demokratiegefährdend wirken. Aber keine Sorge: Es gibt hier wirklich nichts, was gefährdet wäre.

Österreich ist eine stabile Demokratie, mehr stabil als Demokratie, aber immerhin. Eine parlamentarische Demokratie ist es eher nicht. Experten sprechen von „Parteiendemokratie“ und meinen das gar nicht abwertend. Muss man auch nicht. Man kann gut der Meinung sein, dass die Repräsentation der österreichischen Stimmbürger durch Entscheidungen der Parteibürokratie authentischer erfolgt als durch die Entscheidungen der Wähler.

Es macht nur einen Unterschied: In der Parteiendemokratie agieren die Parlamentarier als Fließbandarbeiter an den verlängerten Werkbänken von Parteien und Vorfeldorganisationen, im anderen sind sie Teilnehmer an einem ergebnisoffenen Wettstreit der Meinungen und Interessen. Die Sieger in diesem Wettbewerb erfüllen die nobelste Aufgabe des politischen Akteurs im demokratischen Gemeinwesen: Sie prägen den Geist der Gesetze.

Im Englischen gibt es für Parlamentarier den schönen Begriff „lawmaker“. Man kann den Reifegrad eines parlamentarischen Systems am Anteil bemessen, den das Hohe Haus und seine Bewohner am Zustandekommen der Gesetze haben. Aber schon der sprachliche Unterschied zwischen einem deutschen „Fraktionsführer“ und einem österreichischen „Klubobmann“ markiert einen eklatanten Kulturunterschied: hier die politisch-intellektuelle Leitfigur einer Weltanschauungsgemeinde, dort der Obervereinsmeier eines politischen Kleingeldsparvereins.


Das wachsende Unbehagen über die Dysfunktionalität unserer politischen Institutionenarchitektur liegt nicht zuletzt in der Diskrepanz zwischen parlamentarischer Rhetorik und realpolitischer Praxis. Ja, es wäre wünschenswert, der österreichischen Demokratie eine stärkere parlamentarische Note zu verleihen. Das geht nicht ohne eine Ausweitung der Ressourcen, die dem Hohen Haus zur Verfügung stehen. Sinnvoll ist das aber nur, wenn man die Ressourcen jener beschneidet, die heute das tun, was eigentlich das Parlament tun soll – Gesetze machen nämlich: die Ministerial- und Sozialpartnerbürokratien.

Die zweite Voraussetzung für eine Renaissance des Parlamentarismus in Österreich ist eine Änderung der Personalrekrutierung. Diese wiederum wird es ohne massive Veränderungen im Wahlrecht nicht geben. Das Parlament wird sich nur dann gegenüber den allmächtigen Parteien und Verbänden als Zentrum des politischen Geschehens etablieren können, wenn nicht mehr die Parteizentralen, sondern die Wähler direkt entscheiden, wer sie vertritt.

Vielleicht können wir die Vertreter des Demokratieforschungszentrums bei ihrer nächsten Wien-Reise ja noch einmal überraschen.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2012)

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