Klug genug, um zu wählen, aber zu blöd, um abzustimmen?

Es ist bemerkenswert, wie viel Energie die Politik in die Verhinderung von Volksabstimmungen investiert. Zumindest weiß man jetzt, warum sie andernorts fehlt.

Er wäre ja nicht Heinz Fischer, hätte er nicht zur Frage „Mehr direkte Demokratie?“ mindestens zwei Meinungen. Nach einem großzügigen Klopfer auf die eigene Schulter („Ich war derjenige, der den Antrag auf eine Volksabstimmung zu Zwentendorf eingebracht hat“) konnte sich Fischer in der „Pressestunde am Sonntag“ durchaus vorstellen, das Volk in Zukunft stärker in wichtige Entscheidungen einzubinden.

So wie sich der Bundespräsident ebenso gut vorstellen kann, dagegen zu sein. Ein Mehr an direkter Demokratie dürfe nämlich nicht zu einer Ausschaltung des Nationalrats führen. Tief besorgt zeigt sich der Bundespräsident auch darüber, dass im Zuge eines verstärkten Einsatzes von Volksabstimmungen Probleme „boulevardisiert“ werden könnten. Komplexe Sachverhalte wie der Fiskalpakt und die Installierung des permanenten Rettungsschirms ESM wären deshalb auch nichts für Volksentscheide. Weil deren Darstellung eben zu volkstümlich ausfallen könne.

Das ist interessant. Nahezu zeitgleich forderte nämlich Fischers Amtskollege Joachim Gauck die deutsche Kanzlerin Angela Merkel eindringlich auf, den Leuten die umstrittenen Maßnahmen zur Eurorettung doch einmal genau zu erklären. Damit die Wähler auch verstünden, was da auf sie zukommt. Womit Herr Gauck natürlich völlig recht hat. Hinter dem Rücken der Wähler ist eine Entscheidung von dieser Tragweite auch nicht zu machen. Zumindest nicht, wenn man verhindern will, dass die Bürger scharenweise in das Lager der erbitterten EU-Gegner überlaufen.

Eine derartige Erklärung hätten sich auch die österreichischen Bürger verdient. Und was genau soll so schwer daran sein, den Bürgern in einfachen Sätzen zu sagen, dass mit der Einführung des ESM alle Staaten für die Schulden anderer haften? Und was genau könnte eigentlich „boulevardesk“ daran sein, das Volk darüber aufzuklären, dass künftig nicht nur die Schulden von Staaten vergemeinschaftet werden, sondern auch öffentliche Hilfsgelder zur Rettung privater Banken eingesetzt werden – statt die Verluste bei deren Aktionären zu lassen, wo sie auch hingehören.

Es ist gerade die von Heinz Fischer so gefürchtete „Boulevardisierung“ komplexer Themen, die diesem Land ziemlich guttun könnte. Schon deshalb, weil eine verständliche Darstellung schwer durchschaubarer Sachverhalte nicht zwangsläufig in eine primitive Verkürzung und Verdrehung münden muss, wie nicht zuletzt die Abstimmung über den EU-Beitritt im Juni 1994 gezeigt hat.

Wie weit direkte Demokratie gehen und wie erwachsen das Volk entscheiden kann, zeigen unsere Nachbarn in der Schweiz. Anfang des Jahres votierten sie gegen die Ausweitung des bezahlten Urlaubs von vier auf sechs Wochen. Nicht, weil sie etwas gegen mehr Ferien einzuwenden hätten. Sondern weil die Eidgenossen der Ansicht sind, dass die bereits unter hohem Druck stehende Wirtschaft damit weiter geschwächt würde.

Im Jahr 2005 wurde in St. Gallen eine Initiative zum Ausbau der Regionalspitäler mit großer Mehrheit abgelehnt. Nicht, weil die Bürger etwas gegen eine höhere Hospitaldichte gehabt hätten. Sondern weil ihnen in einfachen Worten erklärt wurde, dass ein derartiger Schritt naturgemäß zu höheren Steuern führen werde. In Niederösterreich stört man das offensichtlich überforderte Volk nicht beim Musikantenstadel, für sie entscheiden die wichtigen Fragen die politischen „Experten“ im Landtag: Heraus kommt unter anderem, dass innerhalb von zwölf Kilometern zwei nigelnagelneue Spitäler in die Landschaft gestellt werden.


Nun muss das Volk nicht über alles und jedes abstimmen. Viel erreicht wäre, wenn die Wähler bei den großen Weichenstellungen randürften. Etwa beim ESM. Oder der Frage, ob der Staat dauerhaft mehr ausgeben soll, als er einnimmt. Oder ob Staatsausgaben per Verfassungsgesetz gebremst werden sollen. Und ob das Pensionsantrittsalter mit steigender Lebenserwartung „mitwachsen“ soll oder eben nicht.

Vor Antworten auf Fragen dieser Art muss niemand Angst haben. Schlechter als die Experten in den Bänken des Nationalrats kann das angeblich so blöde Volk ja auch nicht entscheiden. Und das wäre doch schon eine ganz passable Ausgangsposition, nicht? Seite 1

E-Mails an: franz.schellhorn@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2012)

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