Letzte Ausfahrt Alawistan: Assad verspielt Syriens Zukunft

Rutscht das Land tiefer in einen konfessionellen Bürgerkrieg, geht es bald nicht mehr um die Existenz des Regimes, sondern um das Überleben Syriens als Staat.

Latakia also. In die syrische Küstenstadt und Tabakmetropole soll sich Machthaber Bashar al-Assad Mittwochabend zurückgezogen haben. Zuvor hatte ein Selbstmordattentäter drei seiner wichtigsten Sicherheitschefs in den Tod gerissen. Gestorben ist damit wohl auch Assads bis zuletzt mit aufreizender Dreistigkeit zur Schau gestellte Gewissheit, dass seine Herrschaft die Rebellion unbeschadet überstehen kann. Wenn Assad sich in den vergangenen 16Monaten auch standhaft geweigert hat, aus dem Beispiel Libyen Lehren zu ziehen (vielleicht zog er auch nur die falsche Lehre, nämlich, dass Libyens Gaddafi seiner Meinung nach einfach zu wenig Härte gezeigt habe) – diesmal dürfte er die Botschaft verstanden haben.

Bestätigt war die Flucht des Diktators aus Damaskus zwar auch am Donnerstag noch nicht, es könnte sich also um eine verbale Nebelgranate der Aufständischen handeln, die im Verbreiten von Lügen mittlerweile die Meisterschaft des Regimes erreicht haben. Trotz heftiger Dementis seitens des Regimes hätte das seine Logik: Latakia ist so etwas wie die geheime Hauptstadt der Alawiten. In der gleichnamigen Provinz stellt die Minderheit, der auch der Assad-Clan entstammt, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung. Die Gegend wäre das Zentrum eines Alawistan, eines Rumpfstaates bei einem Zerfall Syriens. Zieht sich Assad dorthin zurück, ändert sich die Kernfrage des Konflikts: Es geht dann nicht mehr darum, ob es Assads Herrschaft in einem Jahr noch gibt, sondern darum, ob es Syrien in einem Jahr noch gibt. Dann hätte es Assad – unter Mithilfe der beide Seiten aufpäppelnden Waffenlieferanten – endgültig geschafft, aus einer friedlichen Protestbewegung einen konfessionellen Bürgerkrieg zu machen.

Als die Rebellen am Dienstag den Endkampf um die Hauptstadt Damaskus ankündigten, war man noch versucht, dies als taktische Jubelpropaganda zwecks Mobilisierung der eigenen Kräfte und Demoralisierung des Gegners abzutun. Der Anschlag vom Mittwoch hat gezeigt, dass sie nicht so falschlagen. Assads wegen seiner Skrupellosigkeit besonders verhasster Schwager tot, der Verteidigungsminister tot, dazu ein hochrangiger General: Jetzt muss sich jeder, der Assad bis jetzt noch treu gedient hat, überlegen, ob er von der nahenden Regimedämmerung mitgerissen werden will oder nicht doch besser die Seiten wechselt. Dass Russland und China im UN-Sicherheitsrat dem Diktator noch immer die Mauer machen, schützt vor einem Selbstmordattentäter aus den eigenen Reihen wenig. Die Attacke ins Herz der syrischen Staatssicherheit könnte das Momentum sein, das der Absetzbewegung bisher gefehlt hat.

Mit gutem Grund hat man im Westen allerdings eine Intervention verworfen, wie sie in Gedankenspielen mancher arabischer Führer vorkommt, deren Eigeninteressen mit ihnen durchgehen. Ein Gegenargument wurde zwar mittlerweile ad absurdum geführt: dass nämlich eine solche Intervention das Land schnurstracks in den Bürgerkrieg führen würde. Dieser hat ganz ohne direktes ausländisches Eingreifen begonnen.


Wie sollte eine solche Intervention auch aussehen? Das Beispiel Libyen hilft hier nicht viel weiter, denn die Wirksamkeit von Luftschlägen wäre aufgrund der ganz anderen geografischen Gegebenheiten und der völlig unklaren Frontverläufe sehr begrenzt. Es müssten also notwendigerweise Bodentruppen sein, doch wie eine solche Invasion ausgehen kann, war jahrelang am benachbarten Irak zu studieren. Osama bin Ladens Erben im Jihad reiben sich schon die Hände.

Zudem wird die Situation immer unübersichtlicher. Zu Beginn des Aufstands war das Bild noch einigermaßen klar: Hier friedliche Demonstranten, die gegen ein diktatorisches Regime protestierten, dort ein Machthaber, der mit größter Brutalität dreinschlagen lässt, um seine Gegner zum Schweigen zu bringen. Freilich ging ein Großteil der zivilen Opfer bisher auf Kosten des Regimes. Dieses hat ja auch die größeren Kapazitäten, Kriegsverbrechen zu begehen. Aber Berichte über Gräueltaten seitens der Rebellen nehmen massiv zu. Das syrische Schwarz-Weiß-Bild ist längst verwischt, dies sollten sich auch Staaten im Westen eingestehen, die mit gutem Grund auf einen Sturz Assads hoffen.

E-Mails an: helmar.dumbs@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2012)

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