Steuern rauf, Schotten dicht, Augen zu

François Hollande wurde nicht gewählt, um die Probleme Frankreichs anzugehen, sondern um die Grande Nation sanft in den Schlaf zu schaukeln.

Die in den 1930er-Jahren gebaute Maginot-Linie war als ultimative Versicherung Frankreichs gedacht. An dem hunderte Kilometer langen, mit Bunkern gespickten Verteidigungswall sollten sich fortan alle Aggressoren die Zähne ausbeißen. Wichtigste Funktion der Anlage war es, ein Desaster wie 1914 zu verhindern, als deutsche Truppen tief ins Landesinnere vorstoßen konnten. Doch dummerweise hatten die französischen Strategen vergessen, den technischen Fortschritt mitzuberücksichtigen, und sich bei ihren Planungen an dem Verlauf des Ersten Weltkriegs orientiert – was zur Folge hatte, dass Hitlers Panzer 1940 die Maginot-Linie mühelos umgehen konnten.

Dieser Exkurs in die Militärgeschichte hat mehr mit der Gegenwart zu tun, als es zunächst den Anschein hat. Denn die in Paris geführten Debatten über Auswege aus der ökonomischen Misere erwecken den Eindruck, Frankreichs Eliten versuchen sich wieder einmal als Baumeister eines Bollwerks von gestern gegen die Probleme von heute. Die gängige Antwort auf die größte Krise seit der Großen Depression lautet Steuern rauf, Schotten dicht, Augen zu. Dass sich die seit eineinhalb Jahren steigende Arbeitslosigkeit, das immer größer werdende Loch in der Handelsbilanz, die wachsende Verschuldung und die heranrollende Welle von Werkschließungen nicht durch die Einführung einer Reichensteuer beseitigen lassen, wird geflissentlich ignoriert. Stattdessen stellt man mit großem Eifer ideologische Grabenkämpfe von anno dazumal nach – als ob die Finanzmärkte zwischen links und rechts, zwischen Sozialisten und Gaullisten unterscheiden würden.

Daher ist es nur logisch und konsequent, dass jener Mann, der von den französischen Wählern zum Staatsoberhaupt erkoren wurde, eine derart jämmerliche Figur macht. François Hollande ist angetreten, als „Monsieur normal“, die des Aktionismus seines Vorgängers, Nicolas Sarkozy, überdrüssig gewordene Grande Nation sanft in den Schlaf zu schaukeln. Nur sechs Monate nach seinem Amtsantritt machen Hollande und seit Team einen ratlosen und verbrauchten Eindruck. Zynisch formuliert ist er als Staatschef mit der politischen Spannung einer AA-Mignonbatterie der richtige Mann zur richtigen Zeit, denn auch Frankreich ist keine Triple-A-Nation mehr, sondern muss sich neuerdings mit einer Bonitätsnote von AA+ begnügen.

Dynamisch klingende Worthülsen sollen von der wachsenden Hilflosigkeit ablenken. Hollande beschwört einen „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“, Außenminister Laurent Fabius will in die „Offensive“ gehen, der von der Regierung mit der Ausarbeitung eines Reformplans beauftragte ehemalige EADS-Chef, Louis Gallois, fordert gar einen „Schock des Vertrauens“. Doch angesichts der Tatsache, dass der französische Haushalt seit Jahrzehnten nicht aus den roten Zahlen kommt, ist das Vertrauen enden wollend.

Dabei zielt ein Teil von Hollandes Reformen in die richtige Richtung. Die neue öffentliche Investitionsbank soll Kapital für die französischen Klein- und Mittelbetriebe bereitstellen und so den Aufbau eines florierenden Mittelstands nach deutschem Vorbild fördern. Die Steuern für Unternehmen sollen um 20 Milliarden Euro sinken. Doch um Frankreichs heilige Kühe zu schlachten, fehlen Hollande sowohl der Wille als auch das Mandat.

Seine Wähler würden einen Angriff auf die geliebte 35-Stunden-Woche und Einschnitte im aufgeblähten Staatsapparat nicht tolerieren. Denn in Wirklichkeit ist nicht der Präsident das Problem, sondern der Souverän: Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Franzosen würde am liebsten die Globalisierung rückabwickeln, den europäischen Binnenmarkt abschaffen und sich hinter hohen Zollmauern verschanzen. Und vermutlich denken die gegen Reformen demonstrierenden Südeuropäer nicht anders.

Wolfgang Schäubles freundschaftliches Angebot, die deutschen Wirtschaftsweisen zum Hilfseinsatz nach Frankreich zu beordern, geht also an der Realität vorbei. Hollande weiß vermutlich ganz genau, was zu tun wäre, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Er weiß aber auch, dass er nicht dafür gewählt wurde. Insofern ist er keine jämmerliche, sondern eine tragische Figur.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2012)

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