Kroatiens Kampf gegen die Altlasten seiner Geschichte

Die Verurteilung von Ex-Premier Sanader zeigt, dass sich das künftige EU-Land seinen Problemen stellt. Doch es gilt noch andere schmerzhafte Themen aufzuarbeiten.

Er hatte große Hoffnungen geweckt – in Kroatien und den europäischen Nachbarstaaten. Und er war auch imstande, viele dieser Hoffnungen zu erfüllen. Ivo Sanader war es gelungen, die „Kroatische Demokratische Gemeinschaft“ (HDZ) in die Mitte zu führen. Der Partei des Kriegspräsidenten Franjo Tudjman haftete das Odium an, ein Sammelbecken finsterer Nationalisten zu sein. Tudjman, der Vater der kroatischen Unabhängigkeit, hatte sich in den Neunzigerjahren als Übervater der kroatischen Nation geriert und im Land und seiner Partei autoritär geherrscht. Nach Tudjmans Tod wurde die HDZ auf die Oppositionsbank verwiesen.

Sanader brach den Einfluss der ultranationalistischen Kreise in der HDZ. Er machte das Erscheinungsbild der Partei freundlicher, brachte sie erneut an die Regierung – und Kroatien auf strammen EU-Kurs. Mit seinem pragmatischen Verhalten und seiner klaren Anerkennung eines geeinten Bosnien und Herzegowina wurde er ein Liebkind der internationalen Gemeinschaft. Den neuen proeuropäischen Weg wussten ihm auch viele Kroaten zu danken.

Doch Ivo Sanader erfüllte nicht nur viele Hoffnungen. Er enttäuschte auch bitter. Seine noch nicht rechtskräftige Verurteilung wegen Korruption und Amtsmissbrauchs ist nur der letzte Akt in einem mehrere Jahre währenden Drama, einem Lehrstück, das das Kroatien durchziehende System aus Verfilzung und Vetternwirtschaft bloßstellte. Den meisten Kroaten war schmerzlich bewusst, Gefangene dieses Systems zu sein. Doch viele waren schockiert darüber, dass just „Saubermann“ Sanader darin verstrickt sein sollte.

So wie für viele andere südosteuropäische Staaten war Kroatiens Ausgangslage nicht einfach. Das Land musste in kurzer Zeit mehrere Transitionen durchmachen: vom Kommunismus jugoslawischer Spielart zur Marktwirtschaft, von einer Teilrepublik Jugoslawiens zu einem eigenen Staat, von einem Konfliktgebiet, in dem ein schauerlicher Krieg wütete, zu einem stabilen Mitglied der europäischen Familie und von der kommunistischen Einparteienherrschaft zu einem Mehrparteiensystem, in dem aber zunächst mit der HDZ auch nur eine Kraft dominierte. Diese schwierigen Übergänge verliefen nicht immer erfolgreich, und jeder von ihnen hinterließ Altlasten, mit denen das neue Kroatien bis heute zu kämpfen hat. Eine davon ist das Biotop, in dem dubiose Geschäftsleute und Kriegsgewinnler ihrem Business nachgegangen sind und in dem Politiker offenbar geglaubt haben, ungestraft ihre Macht missbrauchen zu können.

Doch Kroatien hat Anstrengungen unternommen, dieses Biotop trockenzulegen. Das zeigt gerade der Prozess gegen Ivo Sanader. Dass ein ehemaliger gefeierter Regierungschef wegen mutmaßlicher finanzieller Machenschaften zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wird, ist eine Sensation. In vielen EU-Staaten kommen Ex-Politiker bei ähnlichen Vergehen viel glimpflicher davon oder schaffen es überhaupt, der Justiz dauerhaft ein Schnippchen zu schlagen. Hier beweist das angehende EU-Mitglied Kroatien mehr Europareife als viele seiner „alten“ Unionskollegen.

Es wirkt wie eine Laune der Geschichte, dass Sanaders Verurteilung nur wenige Tage nach der Freilassung eines Mannes kam, den Sanader indirekt ins Gefängnis gebracht hatte: Der kroatische Exgeneral Ante Gotovina wurde vergangene Woche vom Haager Kriegsverbrechertribunal freigesprochen. Gotovina war einer der Hauptverantwortlichen für die Operation „Sturm“ zur Rückeroberung der Krajina 1995. Dabei töteten kroatische Soldaten auch mehrere hundert serbische Zivilisten, fast die gesamte serbische Bevölkerung der Krajina wurde in die Flucht geschlagen.

Die Zusammenarbeit mit dem Tribunal war eine wichtige Voraussetzung für Kroatiens Weg in die EU. Sanader erfüllte sie und zog seine schützende Hand über Gotovina weg. Der General wurde verhaftet. Nun feierte Kroatien euphorisch, dass „Kriegsheld“ Gotovina in die Freiheit entlassen wurde. Doch diese Europhorie darf nicht blind dafür machen, dass Kroatien noch einiges aus seiner jüngsten Geschichte aufzuarbeiten hat. Auch das ist eine Altlast, die es zu entsorgen gilt.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2012)

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