Der unmündige Bürger – wie ihn sich die Politik wünscht

Der Staat wird immer mehr zum Papa, der uns erklärt, wie wir zu leben haben. Der Regierungspaternalismus als reiner Machterhalt?

Alle zehn Jahre bekommen Hausbesitzer in Österreich einen interessanten Besuch von einem Herrn, der mit mehr Macht ausgestattet ist als die Polizei. Ohne Durchsuchungsbefehl darf er jedes Zimmer des Hauses betreten, darf in Kästen schauen, hinter Sofas und unter Tische.

Der Herr ist Rauchfangkehrer oder Feuerwehrmann, und die Macht gibt ihm eine Regelung, die sich „Feuerbeschau“ nennt: Bei ihr wird überprüft, ob der Hausbesitzer leicht brennbare Materialien falsch gelagert hat, den Gastank vom Griller beispielsweise direkt neben dem Kachelofen, und wenn er sehr gestreng ist, dann kann der Feuerbeschauer darauf bestehen, dass man in der Garage ein Schild mit den Worten anbringt: „Vorsicht beim Laufenlassen der Motoren – Vergiftungsgefahr!“

Haftet also nach dieser intimen Prüfung der Rauchfangkehrer, wenn es im Haus zu einem Brand kommt? Bezahlt vielleicht die Regierung ein neues Haus, wenn das alte abbrennt? Nein! Die recht teure Feuerbeschau dient einzig dazu, die Menschen auf „mögliche Gefahren“ aufmerksam zu machen – denn sie sind ja nicht in der Lage, beispielsweise ohne gelbes Schild zu verstehen, dass man in der Garage besser den Motor des Autos ausschaltet.

Der Staat versteht seine Rolle zunehmend nicht mehr nur darin, seinen Bewohnern möglichst ideale Bedingungen für die wirtschaftliche und persönliche Entfaltung zu bieten, sondern sieht sich immer mehr als Papa, der über das körperliche und seelische Wohl der Bürger wacht. Österreich hat es gestern wieder bewiesen, als der Ministerrat ein Handyverbot auf dem Fahrrad abgesegnet hat. Stimmt schon, dass in einem Land, in dem das Telefonieren im Auto verboten ist, konsequenterweise auch das Telefonieren auf dem Fahrrad verboten gehört. Wo aber hört es auf? Sollte nicht auch das Rauchen am Steuer verboten werden, die Suche nach einem Lied auf dem iPod oder das Streiten mit Kind oder Beifahrer/in? All das lenkt ebenso ab wie das Telefonieren. Und was ist mit Motorradfahrern, Skifahrern oder Skatern?

Wir entwickeln uns zu einer Verbotsgesellschaft, die niemandem mehr zutraut, selbstverantwortlich über sein Leben entscheiden zu können. Nicht nur Österreich, sogar das Land, dessen Bewohner sich dem Rest der Welt gern als besonders frei und selbstverantwortlich präsentieren, die USA also, ist ein Musterbeispiel des Regierungspaternalismus. An Ost- und Westküste hat man schädliche Transfette im Essen verboten, in New York ließ Bürgermeister Bloomberg den Verkauf von Cola und anderen zuckerhaltigen Softdrinks auf 0,5 Liter beschränken. Nicht etwa, weil die Allgemeinheit für die Behandlung der Zuckerkranken aufkommen müsste – auch unter Barack Obama gibt es keine allgemeine Krankenversicherung –, sondern, weil man den Menschen zu einem gesunden Lebensstil verhelfen wolle.

Der britische Philosoph John Stuart Mill schrieb in seinem Buch „Über die Freiheit“, dass die Gesellschaft nur dann die Freiheit ihrer Mitglieder einschränken darf, wenn sie sich selbst schützen und Schaden für andere verhindern muss. Deshalb hat ein Rauchverbot am Arbeitsplatz oder in der Gastronomie auch Sinn, eine Feuerbeschau aber nicht, und konsequent zu Ende gedacht wohl auch kein Drogenverbot: Individuelle Freiheit heißt auch, dem Einzelnen zuzugestehen, sich selbst gesundheitlich zu schädigen. Kontrollieren kann man durch eine Besteuerung den Verkauf von Rauschgiften ebenso wie jenen von Alkohol und kann so vielleicht zumindest die Kosten für die Behandlung der Konsumenten wieder einbringen, die jetzt die Allgemeinheit bezahlen muss.


Freiheit heißt Eigenverantwortung, der Staat aber erzieht seine Bürger dazu, Verantwortung für das eigene Handeln abzuschieben. Kein Wunder, wenn jemand in einem solchen Umfeld McDonald's verklagt, weil er sich an Burgern und Pommes fett gefressen hat, oder wenn Eltern der Meinung sind, die Schule müsse ihre Kinder erziehen.

Der mündige, selbstbestimmte Mensch, wie ihn Mill beschreibt, steht nicht im Widerspruch zum Solidaritätsprinzip, auf dem unser Staat aufbaut. Er garantiert aber einen aktiven Staatsbürger. Vielleicht ist es ja gerade das, was die Politik nicht haben will.

E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.12.2012)

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