Österreich kann sich keine Ghetto-Schulen leisten

Das heimische Bildungswesen produziert eine Generation von Verlierern. Denn das System passt schon lange nicht mehr zu seiner Klientel.

Entweder sind oberösterreichische Kinder schlicht klüger als Wiener Kinder, alle zusammen aber immer noch dümmer als die Mehrzahl ihrer Altersgenossen aus anderen Staaten – oder unser Bildungssystem hat ein gravierendes Problem. Es sind im Kern diese beiden Deutungen, die die Bildungsstudien nahelegen, die am gestrigen Dienstag en masse publiziert wurden. Wie sonst lässt sich erklären, dass ganze 43 Prozent aller 14-Jährigen die Mindeststandards (!), die sich aus den Lehrplänen ableiten, in Mathematik nicht oder nur „teilweise“ erfüllen? Dass also fast die Hälfte teils simple Rechenbeispiele nicht bewältigt?

In der Annahme, dass es nicht per se am Intellekt der Österreicher scheitert, sollten wir einen genaueren Blick auf das Schulsystem werfen. Dieses scheint bei den Gymnasien immer noch ganz passable Leistungen zu produzieren, in allen anderen Schulformen nicht. Es scheint in ländlichen Gegenden besser zu funktionieren als im urbanen Bereich. Und es scheint auf manche Bevölkerungsgruppen deutlich besser ausgerichtet zu sein als auf andere. Es gibt nun zwei Varianten, mit diesen Erkenntnissen, die sich auch mit politischer Rhetorik nicht werden wegdeuten lassen, umzugehen.

Variante eins ist naheliegend – und bequem: Freuen wir uns doch einfach, dass die AHS noch halbwegs gut funktioniert – zumindest, wenn man von vernachlässigbaren urbanen Randgebieten wie Wien absieht. Im Gegenzug finden wir uns damit ab, dass sich alle anderen Schulformen im städtischen Bereich dem Sonderschulniveau annähern. Es ist die Variante, die ÖVP-Bildungssprecher Werner Amon gewählt hat, als er gestern den Erhalt der „hervorragenden“ AHS-Unterstufen als ÖVP-Erfolg zu verkaufen versuchte. Die Freude sei ihm unbenommen. Gesamtgesellschaftlich ist all das dennoch Unsinn. Österreich kann es sich nicht leisten, mithilfe ein paar funktionierender Gymnasien ein Niveau vorzugaukeln, über das wir nicht verfügen.

Diese Sichtweise hat wenig mit Sozialromantik zu tun. Es ist volkswirtschaftlich nicht vertretbar, all jene, die nicht den Weg in die AHS finden, als bildungspolitischen Ausschuss zu behandeln. Wir produzieren eine Generation nicht beschäftigungsfähiger, nicht integrierter Verlierer, die zu guter Letzt den Steuerzahlern auf der Tasche liegen. Von den verbauten Lebenschancen ganz zu schweigen. Der Einwand, dass es primär in der Eigenverantwortung der Eltern – nicht der Schule – zu liegen habe, Kindern den Weg in die Zukunft zu weisen, ist übrigens richtig. Er nützt vernachlässigten Zehnjährigen nur leider nichts.

Bleibt die unbequemere Variante zwei: Wir müssen versuchen, Kinder so lange wie möglich vor der Ghettoisierung zu bewahren und ihnen die Chance auf Bildungsaufstieg offenzuhalten. Die Leistungen muss der Einzelne dann freilich selbst erbringen. Dass dieses Konzept nicht ganz falsch ist, zeigt der ländliche Raum, in dem auch die „klugen“ Kinder heute noch die Hauptschule besuchen, während dies in den Städten fast nur Migranten und Bildungsferne tun. Am Land ist die Hauptschule damit jene Gesamtschule, die bei vielen Eltern andernorts Panik auslöst. Die vergleichsweise guten Leistungen dieser Schule sprechen aber für sich.

Dass Eltern im urbanen Bereich ihre Kinder ungern als Versuchskaninchen für eine von Migranten überlaufene Gesamtschule missbraucht sehen wollen, ist legitim. Solange Integration in Österreich kaum funktioniert, sollten wir uns von dieser Idee also verabschieden. Die Lösung kann inzwischen in einer Verlängerung der Volksschulzeit, etwa auf sechs Jahre, liegen. Dort driftet die Leistung von guten und schlechten Schülern laut Studien nicht so stark auseinander. Das ist vor allem, wenn es um das Erlernen von Grundkompetenzen geht, wichtig.

Dass Österreich im internationalen Vergleich auch bei den Volksschulen nur mäßig gut abschneidet, ist ein Wermutstropfen. Und muss als Auftrag gesehen werden: Wir müssen noch mehr Wert auf die frühe Bildung – beginnend mit dem Kindergarten – legen. Hier muss in die Kompetenzen der Lehrerinnen – es sind vor allem Frauen – investiert werden, hier muss die Integration passieren.

Wem das nicht gelingt, der braucht sich später nicht über verpatzte Mathematiktests zu wundern.

E-Mails an: christoph.schwarz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2012)

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