Wien ist nicht Neu-Delhi – aber wie weit weg ist es?

Gewalt gegen Frauen regt punktuell auf, wenn sie besonders grausam ist, wie in Indien, oder besonders unglaublich, wie in der U6. Zu oft aber lässt sie uns kalt.

Wer auf die Idee kommt, Wien mit Neu-Delhi zu vergleichen, darf sich normalerweise gleich an den Ohren ziehen lassen. So eine Frechheit, wem fällt das denn ein? Was soll denn bitte der Nabel der sicheren, wohlhabenden österreichischen Welt mit der Hochburg indischer Slums, Armut und Brutalität gemeinsam haben?

Na ja, fragen wir doch einmal die junge Frau (23), die am 17.Dezember in Alterlaa in die U6 gestiegen ist. Drei Stationen weiter war sie ohnmächtig, bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, und vergewaltigt. Ihre Leidensgenossin aus Neu-Delhi kann niemand mehr fragen. Die 23-jährige Studentin, die am 16.Dezember in einem Bus von sechs betrunkenen Männern vergewaltigt, mit einer Eisenstange geschlagen und auf die Straße geworfen wurde, ist am Samstag ihren schweren Verletzungen erlegen.

Derartige Gewalt gegen Frauen empört alle Welt. Im Falle Indiens regt die schiere Brutalität des Falles auf, die dem Land den Vorhang heruntergerissen und es vor der Welt bloßgestellt hat. Indien behandelt seine Frauen wie den letzten Dreck – das kann jetzt jeder sehen. Die Vergewaltigung der 23-jährigen Studentin könnte einer jener Vorfälle sein, der Dinge grundlegend verändert. Hoffentlich. Die Öffentlichkeit hat dem offiziell noch immer namenlosen Opfer schmückende Beiwörter umgehängt wie „Blume Indiens“ oder „Löwenherz“ – und diesen wird sie posthum möglicherweise gerecht werden.

Im Falle der Vergewaltigung in der Wiener U6 regt etwas anderes auf: die schiere Kaltblütigkeit der Tat sowie der unglaubliche Umstand, dass sie in der vorweihnachtlichen Rushhour (18.15 Uhr an einem Montag) drei Stationen lang einfach nicht bemerkt wurde.

Was an der ganzen Sache aber besonders aufregt, ist, dass es solcher horrender Vorfälle bedarf, um Gewalt gegen Frauen wieder dorthin zu rücken, wo sie eigentlich ständig hingehörte: in den Blickpunkt der Öffentlichkeit – und zwar in den Blickpunkt einer ewig wachsamen und gegenüber den Tätern kompromisslosen Öffentlichkeit. Nicht einer achselzuckenden, gelangweilten, abgestumpften Öffentlichkeit, die sich ganz gern auch noch zu geschmacklosen Bemerkungen hinreißen lässt.

Doch zu einer solchen Öffentlichkeit sind wir mittlerweile geworden, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht. Der Umstand einer Vergewaltigung reicht heute oft nicht mehr aus, um es in die Medien zu schaffen, es sei denn, die Umstände sind besonders horrend oder die Beteiligten besonders prominent. Sonst lautet der Tenor: Tja, echt schlimm für das Opfer, aber weder das erste noch das letzte Mal, dass so etwas vorkommt. Auch dass Frauen in Indien schlecht behandelt werden, wissen wir schon lange. Und die hunderttausenden Frauen, die jedes Jahr– auch nach Europa – als Sexarbeiterinnen verkauft werden, fallen in der öffentlichen Wahrnehmung unter so etwas wie Wirtschaftskriminalität. In Pakistan wird Mädchen ins Gesicht geschossen, wenn sie in die Schule gehen wollen, in Asien landen sie in jungen Jahren im Bordell, in Afrika werden sie gegen ihren Willen beschnitten. Aber Gott sei Dank ist das alles ja echt weit weg.


Oder auch nicht. Gewalt gegen Frauen ist nicht nur ein globales, sondern auch ein globalisiertes Problem. Als Teil der weltweiten Migrationswellen wandert es von Land zu Land, breitet sich aus und setzt sich fest. Die Strukturen der vernetzten Welt haben nicht nur jenen geholfen, die sich gegen die Gewalt gegen Frauen zur Wehr setzen, sondern wahrscheinlich mehr noch jenen, die sie begehen.

Und auch wenn es politisch heikel ist, ein Argument hat in dieser Diskussion überhaupt keinen Platz – das der kulturellen Unterschiede, wie Frauen von ihren Männern behandelt werden (dürfen). Der gesellschaftspolitische Konsens muss sein, dass Gewalt gegen Frauen bekämpft werden muss, dass man in diesem Kampf nicht nachlassen darf und dass man dafür auch Auseinandersetzungen austragen muss, die man als politisch inkorrekt ansieht.

2013 ist ein gutes Jahr, um sich diesen Kampf auf die Fahnen zu schreiben. „Löwenherz“, die 23-jährige U6-Fahrerin und Millionen andere Frauen werden es zu danken wissen.

E-Mails an: doris.kraus@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2012)

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