Warum eine erfolgreiche Trennung kein Vorbild ist

Wer das Ende der Tschechoslowakei als Blaupause für eine mögliche Aufspaltung der EU sehen möchte, irrt. Ein „Grexit“ wäre viel traumatischer.

Über die Trennung von Tschechien und der Slowakei zu schreiben ist kniffliger, als es zunächst den Anschein haben könnte. Schwierig ist dieses Unterfangen, weil die heutige Conclusio dermaßen naheliegend ist, dass sie wie selbstverständlich daherkommt: Die am 1.Jänner 1993 vollzogene einvernehmliche Scheidung war – und daran lässt sich auch beim besten Willen nicht rütteln – ein Erfolg.

Die aus einer gut sieben Jahrzehnte währenden Zweckgemeinschaft befreiten Völker sind nicht bei der ersten sich bietenden Gelegenheit übereinander hergefallen, wie man es nur wenig später auf dem Westbalkan besichtigen konnte. Nachbarschaftspolitik mit dem Hackbeil hat es im Laufe der vergangenen 20 Jahre ebenso wenig wie nationalistisch befeuerte Rivalitäten gegeben. Tschechen wie Slowaken fanden ihren eigenen Weg zur wirtschaftlichen Prosperität. Die Erstgenannten knüpften an die Glanzleistungen der böhmischen Ingenieure an und positionierten sich als verlängerte Werkbank für Volkswagen und Co., während die Slowakei (nach einer unerfreulichen autokratischen Episode unter Vladimir Mečiar) als investitionsfreundliches Flat-Tax-Land punkten konnte.

Heute sind die Beziehungen harmonischer denn je. Die tschechischen und slowakischen Regierungen treffen sich zu Kabinettssitzungen, man macht sich Gedanken über eine grenzüberschreitende Energieversorgung und eine Fusion der Bahngesellschaften – selbst eine gemeinsame tschechisch-slowakische Fußballliga ist im Gespräch.

Dabei war der Tenor der westlichen Meinungsmacher Anfang der 1990er-Jahre ganz anders: „Politisch und wirtschaftlich erscheinen die neuen Staatsgebilde verwundbar [...] aus ökonomischer Sicht ist die Aufteilung von Großstaaten in einzelne unabhängige Republiken von Nachteil“, warnte die französische Nachrichtenagentur AFP in einer am Vorabend der tschechisch-slowakischen Trennung veröffentlichten Analyse. Das Ende der Tschechoslowakei würde zu Instabilität und Nationalitätenkonflikten führen – und vielleicht gar zu einem regionalen Kleinkrieg, mahnten die Kassandras im „Westen“.

Heute verhält es sich genau umgekehrt. Die Abwicklung der ČSSR wird in den Himmel gelobt und zur Blaupause für mögliche künftige innereuropäische Aufspaltungen deklariert. Denn wenn es die Tschechen und Slowaken geschafft haben, zivilisiert getrennte Wege zu gehen, dann werden es Griechenland und die EU wohl auch schaffen, so die unausgesprochene Annahme.

Äußerliche Ähnlichkeiten können allerdings trügen – was nun aber nicht heißen soll, ein sogenannter Grexit wäre nicht durchführbar. Ein Ausstieg Griechenlands aus der Union ist durchaus machbar, und über seine Sinnhaftigkeit lässt sich trefflich streiten. Eines muss aber klar sein: Er wäre traumatischer als das Ende der Tschechoslowakei, und zwar aus drei Gründen.

Erstens aufgrund der Zeit. Anfang der 1990er herrschte in Zentraleuropa Aufbruchsstimmung, die aus dem sowjetischen Völkerkerker befreiten Nationen wollten ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Anders die Griechen, die Brüssel mehrheitlich nicht als verhassten „Großen Bruder“ sehen und der EU aus freien Stücken beigetreten sind.

Zweitens aufgrund der Ausgangslage. Für die Tschechen und Slowaken konnte es 1993 nach der Implosion der sozialistischen Planwirtschaft materiell nur aufwärtsgehen. Für Griechenland bedeutet der Austritt aus der EU zunächst einmal noch mehr Elend.

Und drittens aufgrund der Perspektiven. Zum Zeitpunkt ihrer Trennung waren Tschechien und die Slowakei auf Kurs Richtung Nato und EU, die Beitrittsperspektiven waren intakt, die Reformarbeit war vorgegeben. Der Abschied von Griechenland hingegen wäre nichts anderes als eine Vertreibung aus diesem multilateralen europäischen Paradies.

Der Blick nach Prag und Bratislava greift also zu kurz. Die EU wird einen eigenen Weg finden müssen, um ihre dysfunktionalen Beziehungsmuster zu reparieren. Dass es für Beziehungsprobleme kein Allheilmittel gibt, ist allerdings keine neue Erkenntnis. Wie heißt es doch so schön bei Leo Tolstoi? „Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2013)

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