Öcalans und Erdoğans Einsicht kommt für 40.000 Tote zu spät

Es wäre naiv zu glauben, der türkisch-kurdische Friedensprozess wäre sicher auf Schiene. Der Zug kann jederzeit entgleisen. Aber die Zeichen sind ermutigend.

Jahrzehnte hatte der blutige Konflikt gedauert, tausende Menschen waren ihm zum Opfer gefallen. Doch dann geschah etwas, woran kaum noch jemand geglaubt hatte: Obwohl gerade das vergangene Jahr massive Gewalt gesehen hatte, erklärten die Separatisten einen einseitigen Waffenstillstand, als Basis für Friedensverhandlungen.

Das war 1994. Bei der Terrorgruppe handelte es sich um die IRA, und vier Jahre später wurde zwischen den katholischen und den protestantischen Extremisten Nordirlands und der britischen Regierung als dritter Partei tatsächlich Frieden geschlossen. Er hält bis heute.

Der Kurden- und der Nordirland-Konflikt lassen sich zwar nicht gleichsetzen: nicht von der Opferzahl her – dem Kampf zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften sind zehnmal so viele Menschenleben zum Opfer gefallen –, nicht von der Skrupellosigkeit der Akteure her – da haben türkische Armee und Sonderpolizei wie auch die PKK die Nase vorn – und schon gar nicht vom geopolitischen Umfeld her, das im Fall des Kurdenkonfliktes ungleich komplexer ist.

Aber einige Lehren lassen sich doch ziehen. Die wichtigste: Jeder Konflikt endet einmal, erscheint er auch noch so vertrackt. Und dann müssen die Gegner einen Modus Vivendi finden. Je früher, desto mehr Todesopfer können vermieden werden. So banal diese Erkenntnis ist, die traurige Wahrheit ist die, dass sich die Menschheit hier als hoffnungslos lernresistent erwiesen hat.

Die zweite Lehre: Verhandeln muss man immer mit den „bösen Buben“, also mit denen, die die Waffen haben. Im Nordirland-Konflikt war das Gerry Adams, der Oberbefehlshaber der IRA. Er lieferte den Protestanten blutige Kämpfe, nur er konnte daher auch den Frieden liefern. Ganz genauso verhält es sich nun in der Türkei: Wenn Premier Recep Tayyip Erdoğan noch vor einem Jahr in seiner angeblich neuen Strategie erklärt hat, man werde nur mit den gewählten Kurdenvertretern verhandeln, die Terroristen aber unnachgiebig bekämpfen, hat er damit nur bewiesen, dass er den Grundkurs Machiavelli belegt hat: Sag das eine, tu das andere. Selbstverständlich ließ er, während die Armee weiter Angriffe flog und die Justiz Kurden unter fadenscheinigen Vorwänden inhaftierte, seinen Geheimdienst und seine Emissäre mit dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan verhandeln. Ja, mit wem denn sonst? Mit dem Präsidenten des kurdischen PEN-Clubs?

Die dritte Lehre: Das Schwierigste ist, der Gegenseite ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenzubringen. Paradoxerweise fällt es oft einstigen Kriegsgegnern leichter, miteinander zu reden. „Ich habe gegen ihn Krieg geführt, warum soll ich ihm jetzt nicht die Hand geben?“, rechtfertigte etwa Serbiens Premier Ivica Dačić den Handschlag mit seinem kosovarischen Counterpart Hashim Thaçi.


Offenbar hat der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan auch den Aufbaukurs Machiavelli besucht: jene Lektionen, in denen es um Pragmatismus geht. Dass Erdoğan pragmatisch sein kann, hat man in seiner ersten, reformorientierten Phase als Premier gesehen, in den vergangenen Jahren geriet das wegen seiner mindestens ebenso starken Neigung zur Überhitzung ein wenig in Vergessenheit. Aber die Zeit drängte: Angesichts der kurdischen Machtübernahme in einigen Gebieten Syriens musste Erdoğan „seinen“ Kurden rasch etwas bieten. Man wird sehen, wie weit er zu gehen bereit ist. Gleichzeitig hat die militärische Schwächung die PKK wohl verhandlungsbereiter gemacht.

Es wäre naiv, jetzt schon zu glauben, der kurdisch-türkische Friedensprozess wäre bereits sicher auf Schiene. Wie oft schon haben in der Vergangenheit interessierte Gruppen auf beiden Seiten jede zaghafte Annäherung torpediert: Falken in der PKK, für die der bewaffnete Kampf die Existenzberechtigung ist, und interessierte Kreise in der Armee, die unter Verweis auf den Kurdenkonflikt viele ihrer Privilegien legitimieren konnten. Dass es weder die jüngsten, wegen der Winterzeit äußerst ungewöhnlichen Angriffe der PKK noch die mysteriösen Morde an kurdischen Aktivistinnen in Paris fürs Erste geschafft haben, den Zug zu stoppen, ist ein ermutigendes Zeichen.

Doch eine Entgleisung bleibt weiter möglich. Auch das lehrt der steinige nordirische Friedensprozess.

E-Mails an: helmar.dumbs@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2013)

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