Leitartikel: Boston und der Preis der Freiheit

Wie viel Freiheit wollen wir opfern, um eine Sicherheit zu erlangen, die nie absolut sein kann? Was man fragen muss, auch wenn Schock und Wut über Boston tief sitzen.

Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Rufe kamen: Man müsse mehr Überwachungskameras in den Städten installieren, meinten republikanische Politiker in den USA; schnell her mit der Vorratsdatenspeicherung, forderte die CSU in Deutschland; und ein US-Kongressabgeordneter hatte gar die Idee, nur noch Menschen zu Großveranstaltungen zuzulassen, die sich zuvor auf einer Website registriert hatten – so, wie es jetzt schon Touristen vor einem Besuch der USA machen müssen.

Die Exekutive tut sich leicht, nach solchen Anschlägen wie jetzt in Boston mehr Rechte für sich zu reklamieren. Man hat es nach den Attacken vom 11.September 2001 gesehen, als das „Land of the Free“ bereitwilligst Grundrechte und Bürgerfreiheiten aufgab. Mit dem „Patriot Act“ machten sich die USA zum realen „1984“: Die Polizei weiß seither, wer welche Bücher kauft, und wenn sich darunter viele einschlägig verdächtige befinden, bekommt der Leser Besuch vom FBI; die Exekutive darf ohne richterliche Genehmigung Wohnungen durchsuchen und Verdächtige ohne Recht auf einen Anwalt monatelang festhalten; sie darf in einem Verfahren Beweise verwenden, denen der Angeklagte nichts entgegenhalten kann, weil sie im Interesse der nationalen Sicherheit geheim bleiben; Heimatschützer und CIA haben sogar – ein Bericht hat es vor wenigen Tagen enthüllt – Menschen entführt und gefoltert, weil man sie für Terroristen hielt, und mussten dafür niemandem Rechenschaft ablegen.

Dennoch haben all diese Maßnahmen, haben Milliarden von Dollar, die man jährlich für „Heimatschutz“ ausgibt, haben 19 Geheimdienste, hunderte Informanten und hunderttausende abgehörte Telefongespräche und mitgelesene E-Mails nicht verhindern können, dass zwei Bomben bei einer Großveranstaltung explodiert sind. Und deswegen muss man sich trotz des Schocks über den Anschlag und der Wut über den Tod eines achtjährigen Buben nüchtern fragen, ob wir solche Anschläge nicht als Preis für die uns noch verbliebenen Freiheiten in Kauf nehmen müssen.

Denn natürlich sind Sicherheit und Freiheit Gegensätze, auch wenn uns manche erklären wollen, dass das eine das andere bedingt: Nur wer sicher sei, so das Argument, könne in Freiheit vor Angst und damit erst richtig frei leben.

Doch welche Art von Freiheit ist das noch? Eine, in der der Staat alles über jeden einzelnen Bürger weiß, in der er all unsere Gespräche abhören, all unsere E-Mails lesen kann, in der man vor jeder U-Bahn-Fahrt, jedem Konzert, jedem Kino- und Theaterbesuch durch einen Ganzkörperscanner gehen muss? Und alles mit dem absurden Argument, dass jemand, der nichts zu verbergen ja auch nichts zu befürchten hat.

Wie allmächtig wollen wir den Überwachungsstaat noch machen? Wollen wir uns wirklich alle registrieren, wenn wir zu einer Großveranstaltung gehen, damit die Polizei überprüfen kann, ob nicht eine verdächtige Person unter den Besuchern ist? Und wer legt fest, ab wann man verdächtig ist? In den USA sind zehntausende Menschen auf der No-fly-Liste – sie dürfen nicht in kommerziellen Flugzeugen fliegen –, weil sie als terrorverdächtig gelten. Warum sie auf der Liste sind, sagt man ihnen nicht – bei einigen genügte schon Kritik am Irak-Krieg –, und damit haben sie auch keine Möglichkeit, auf eine Streichung von der Liste zu klagen oder sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen.


Wir haben uns die Freiheiten, die in der Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind, mühsam und blutig erkämpft. Die schrittweise Aufgabe zugunsten einer Sicherheit, die nie absolut sein kann, ist ein Verrat an den zehntausenden Menschen, die ihr Leben für diese Grund- und Freiheitsrechte gelassen haben. Staatliches Handeln muss stets berechenbar und immer rechtlich überprüfbar sein, und der Staat muss sich in all seinem Handeln an diesen Grund- und Freiheitsrechten orientieren.

Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, hat 1775 erklärt: „Die, die bereit sind, ihre Freiheiten für etwas mehr Sicherheit aufzugeben, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“

Das gilt heute mehr denn je.

E-Mails an: norbert.rief@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2013)

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