Leitartikel: Der Überwachungsstaat, den wir wollten

Die lückenlose Analyse des digital vernetzten Bürgers ist längst Realität. Verordnet haben ihn aber weder Despoten noch Parlamente. Wir bettelten selbst darum.

In einer Szene des Hollywood-Blockbusters „Apollo 13“ reißt sich Oscar-Preisträger Tom Hanks entnervt die Sensoren zur Überwachung seiner Vitalfunktionen vom Leib. Er und seine Astronautenkollegen, die in einer schwer beschädigten Mondfähre auf die Erde zurasen, sind es leid, dass Mission Control in Houston jedes Mal live dabei ist, wenn einer der drei einen erhöhten Herzschlag sendet, Fieber hat oder seltener als empfohlen aufs Klo geht.

Die reale Vorlage zum Film fand vor 43 Jahren irgendwo in der Tiefe des Alls statt. Das Internet, Festplatten und Smartphones waren damals noch nicht einmal Science-Fiction. Trotzdem zeigt die beschriebene Szene, dass nicht alle Details unseres Lebens von Haus aus für eine kleinere oder größere Öffentlichkeit bestimmt sind.

Doch das war einmal. Quantität und Qualität der Informationen, die ein großer Teil der digital vernetzten Menschheit freiwillig mit ausgesuchten Firmen, Freunden, Regierungen oder auf Wunsch gleich der ganzen Welt teilt, gehen längst weit über Herzfrequenz, Körpertemperatur und Stoffwechselsituation hinaus. Das Stichwort, das seit einiger Zeit die Runde macht, heißt Big Data.

Dabei geht es um mehr als das bloße Sammeln digitaler Informationen. Es geht darum, die Urheber der Daten, die Bürger, bis in die letzte Faser zu durchleuchten, deren Vergangenheit zu analysieren und ihre Zukunft mithilfe errechneter Wahrscheinlichkeiten vorherzusagen. Wirtschaft und Wissenschaft erhoffen sich durch die Erschließung dieser Technologien neue Geschäftsfelder und neue Erkenntnisse. Dabei stehen die Möglichkeiten zum Verschneiden riesiger Datensätze erst am Anfang. Die Angst davor ist schon weit fortgeschritten.

Nahezu täglich stimmen neue Kritiker in das Lamento gegen den immer weitere Kreise ziehenden Überwachungsstaat ein. Der im deutschen Sprachraum führende IT-Newsticker heise.de bezeichnete Big Data vor wenigen Wochen in einer Schlagzeile als „Gefahr für die Demokratie“.

Was in der Debatte bisher völlig untergeht: Adressaten der Kritik sollten nicht nur einschlägige Despoten, vermeintlich bürgerfeindliche Regierungen, skrupellose Internetkonzerne oder von Lobbyisten unterwanderte Parlamente sein. Der größte Teil der Verantwortung liegt bei den Bürgern selbst. Kostprobe gefällig?

Hunderte Millionen von Netzbürgern betreiben Nutzerprofile bei Anbietern wie Google oder Facebook. Und sie füttern bereitwillig Firmen, von denen sie niemals im Leben einen Kundendienstmitarbeiter sehen werden, mit allem, was eine Identität ausmacht. Fotos. Videos. Standortdaten. Bewegungsprofile. Vorlieben. Einkaufslisten. Kreditkartendaten. Wohnadressen. Terminkalender. Berufliche und private E-Mail-Inhalte. Jede einzelne Webseite, die bei eingeloggtem Konto aufgerufen wird, landet im Datenspeicher. Das Verschneiden dieser Informationen ergibt Abermillionen von detaillierten Persönlichkeitsprofilen, die sich gewinnbringend vermarkten lassen. Selbstzweifel sind angesichts der kostenlos zur Verfügung gestellten Dienste selten. Das Kleingedruckte ist fast immer nur lästiges Beiwerk.


Anders ist es nicht zu erklären, dass etwa die neue Facebook-App für Smartphones millionenfach installiert wurde. Tatsächlich ist das Programm nämlich ein feines Stück Spionagesoftware. Vor der Aktivierung erlaubt man der App ausdrücklich, dass sie ohne Bestätigung des Nutzers Kamera und Mikrofon des Telefons benutzen darf, den Standort aufzeichnet, das Adressbuch lesen und weitergeben kann, das Anrufprotokoll auswertet, ohne eigenes Wissen Telefonnummern wählt, andere Konten im Handy – das eigentlich ein Computer ist – durchleuchtet und Daten ohne Bestätigung im Einzelfall aus dem Netz lädt. Schockiert? Kleiner Tipp: Das Entfernen der Software ist jederzeit möglich.

Ja, es ist gut und richtig, wenn man mit staatlich verordneten Datensammlungen (Vorratsdaten, Videoüberwachung auf Autobahnen, bald auch dem Stromverbrauch) kritisch umgeht. Solange dieselben Bürger intimste Informationen kostenlos anonymen Weltmarken zur Verfügung stellen, hält sich der Schutz für Missbrauch dieser Daten in engsten Grenzen.

E-Mails an: andreas.wetz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Thema

„In der Welt von Big Data fehlen uns die Filter für das Wichtige“

Interview. Wir stehen an einer Zeitenwende. Das sagt der österreichische Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger.
Thema

Schlaglöcher und Delinquenten: Wie Big Data die Städte erfasst

Smart Cities. Ausgehend von den USA erfasst die Datenrevolution auch die kommunale Verwaltung und Verbrechensbekämpfung.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.