Leitartikel: Freiheit und Demokratie kommen nicht aus Gewehrläufen

Die Kritik der ägyptischen Opposition an den Muslimbrüdern war mehr als berechtigt. Doch sie setzt nun auf einen gefährlichen Verbündeten: die Armee.

So sieht es aus, wenn Soldaten aufmarschieren, um die Demokratie zu retten: Der gewählte Präsident Ägyptens und die Führer der größten politischen Bewegung sitzen in Haft, Medien wurden geschlossen und Panzer verhindern, dass dagegen protestiert wird. Ägyptens Militär weist kategorisch zurück, dass es geputscht hat. Und die linke und liberale Opposition, die den Umsturz unterstützt, bekräftigt diese Darstellung. Doch es war ein Putsch. Was sonst soll es sein, wenn die Streitkräfte mit der Macht der Gewehre die zivile Führung des Landes auswechseln?

Die Muslimbrüder und der aus ihren Reihen stammende Präsident, Mohammed Mursi, mögen alles andere als sympathisch wirken: mit ihrer islamistischen Agenda, mit den Versuchen, Ägyptens Gesellschaft noch konservativer zu machen, und mit ihrem autoritären Auftreten gegenüber anderen politischen Gruppen – einem Verhalten, das dem Selbstverständnis der hierarchisch aufgebauten Bruderschaft entspringt.

Doch, und das ist die Crux, Mursi und die „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ der Muslimbrüder sind an die Spitze des Staates gewählt worden. Zwar waren diese Abstimmungen keineswegs perfekt: weil etwa Stimmenkauf im Spiel war und weil von vornherein klar war, dass die liberalen und linken Parteien, die sich nach dem Ende der Mubarak-Diktatur erst organisieren mussten, gegen die Muslimbrüder-Maschinerie nie eine Chance haben würden. Trotzdem waren diese Wahlen die freiesten und fairsten, die in Ägyptens jüngerer Vergangenheit stattgefunden haben.

Sobald Mursi und seine Gesinnungsgenossen an der Macht waren, verhielten sie sich freilich alles andere als demokratisch, mit ihrer „Wir sind die Stärksten, also bekommen wir alles“-Einstellung. Etwa, als es darum ging, eine neue Verfassung zu zimmern, oder als sie begannen, die Institutionen mit ihren Gefolgsleuten zu durchsetzen.
All das wurde von der Opposition und den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz zu Recht kritisiert. Doch beim Versuch, das Pendel nun in ihre Richtung ausschlagen zu lassen, setzen sie nicht nur auf hochproblematische Methoden, sondern auch auf einen hochproblematischen Verbündeten: Mithilfe putschender Generäle mehr Demokratie erkämpfen zu wollen, gleicht der Fahrt durchs Gelände auf dem Heck eines Kampfpanzers, den man selbst nicht steuert. Ägyptens Armee zeigte bereits während und nach Mubaraks Sturz, dass sie vor allem an ihre Eigeninteressen denkt und für Menschenrechte oder Meinungsfreiheit nicht viel übrig hat. Nach Mubarak hielten die Generäle die Macht in Händen. Viele Fehlentscheidungen bei der Neuordnung Ägyptens gehen auf ihre Kappe. Unter ihnen begann der wirtschaftliche Niedergang, der sich unter Mursi beschleunigte.

Jahrzehntelang galten die Muslimbrüder bei vielen – nicht nur frommen – Ägyptern als unbestechliche Aktivisten, die die Not der Armen lindern. Eineinhalb Jahre Dominanz im Parlament und ein Jahr Mursi reichten aber, dass sie sich selbst entzauberten. Zynisch ausgedrückt hat sie der Umsturz davor bewahrt, bei den nächsten Wahlen abgestraft zu werden. Jetzt können sie aber die Rolle des „Opfers“ für sich beanspruchen, das daran gehindert wurde, Ägypten in eine bessere Zukunft zu führen – in der das Land mit einem Präsidenten Mursi freilich nie angekommen wäre.

In dieser Opferrolle könnten sich Teile der Muslimbrüder radikalisieren und mit der „Erkenntnis“, Demokratie tauge zur Machterlangung nicht, in die Gewaltszene abgleiten. Im Extremfall droht ein Szenario wie in Algerien, wo die Armee 1991 mit einem Putsch einen islamistischen Wahlsieg zunichtemachte und ein langer Bürgerkrieg folgte.

Auch wenn ein Bürgerkrieg ausbleibt, wurde Ägyptens Gesellschaft durch den Umsturz noch stärker gespalten. Und auch die neue Regierung wird nur schwer ein Rezept dafür finden, wie man zugleich die Wirtschaft in Gang setzt, das Budget saniert und den Wunsch der Massen nach höheren Löhnen und subventionierten Lebensmitteln erfüllt. Sollten diese Erwartungen erneut enttäuscht werden, sind bald wieder Hunderttausende auf der Straße. Und die Armee zieht vielleicht erneut die Notbremse.


E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2012)

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