Die Orientierungslosigkeit der ehemaligen Großparteien

Orientierungslosigkeit ehemaligen Grossparteien
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Kaum jemand weiß mehr, wofür SPÖ und ÖVP eigentlich stehen. Kein Wunder, dass sich immer mehr Wähler von den beiden Dauerregierungsparteien abwenden.

Früher war das Wählen noch relativ einfach: Als Arbeiter gab man der SPÖ seine Stimme, als Unternehmer der ÖVP. Die Parteien setzten sich im Gegenzug für die Interessen ihrer Klientel ein. Man profitierte voneinander. Doch diese Zeiten sind vorbei. Das Lager der Unentschlossenen, die später oft zu Nichtwählern werden, wird konstant größer. Immer mehr Menschen fragen sich mit Blick auf den 29.September: Wen soll ich wählen? Und warum eigentlich?

Über den Grund dafür muss man nicht lange grübeln: Kaum jemand weiß mehr, wofür die beiden ehemals großen Lager stehen. Das nährt Zweifel: Wird die SPÖ/die ÖVP tatsächlich für meine Interessen eintreten, wenn ich sie wähle?

Nun, man kann eigentlich nicht mehr sicher sein. Den Beweis lieferten diese Woche beide Parteien mit ihren Widersprüchlichkeiten in der Asyl- bzw. Migrationspolitik. Ist es richtig, Flüchtlinge in ein Land wie Pakistan abzuschieben? Die Antwort der SPÖ lautet: Eigentlich schon und sicher nicht. Der moderate Parteiflügel beruft sich im Zweifelsfall auf den Rechtsstaat, während das linke Lager empört eine humanitäre Lösung fordert.

Die innerparteiliche, aber öffentlich geführte Debatte nahm bisweilen possenartige Züge an. Chronologisch: Nationalratspräsidentin Barbara Prammer wirft Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) übertriebene Härte vor. Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos verteidigt Mikl-Leitner mitten im Wahlkampf gegen seine Genossen. Der oberösterreichische SPÖ-Chef Josef Ackerl erteilt Darabos eine Rüge: „Unerträglich.“

Ähnlich verwirrt dürften potenzielle ÖVP-Wähler gewesen sein, als sich Christoph Schönborn offen gegen die Innenministerin stellte. Nicht, dass der Wiener Erzbischof der ÖVP zuzurechnen wäre. Aber für den katholischen Wähler, der sich in der Regel bei der ÖVP zu Hause fühlt, ist er eine moralische Instanz. Hat Mikl-Leitner denn der Nächstenliebe entsagt? Oder sich bloß für den Rechtsstaat entschieden? Wohl eher Zweiteres. Aber manchem könnte das die Wahlentscheidung erschweren.

Bemerkenswert waren auch andere Einblicke in das Innenleben einer Regierungspartei. Bis vor Kurzem herrschte eigentlich Konsens darüber, dass Staatssekretär Sebastian Kurz zuwanderungspolitisch den größten gemeinsamen Nenner für die nicht gerade homogene ÖVP gefunden hatte: „Integration durch Leistung.“ Um mit gutem Beispiel voranzugehen, platzierte Parteiobmann Michael Spindelegger den engagierten Jungfunktionär Asdin El Habbassi an wählbarer Stelle der Bundesliste. Ein Muslim wird also für die katholische ÖVP in den Nationalrat einziehen. Das war strategisch nicht ungeschickt – möchte man meinen.

Denn dann trat Ursula Stenzel auf den Plan. Ein Satz genügte, um die Integrationspolitik ihrer Partei in Zweifel zu ziehen. Sie kenne zumindest einige, sagte die Bezirksvorsteherin der Wiener Innenstadt, die gerade deshalb nicht die ÖVP wählen würden, weil die Partei jemanden wie El Habbassi ins Parlament schicke.

Sprach Stenzel für eine verschwindende Minderheit? (Das will man zumindest hoffen.) Wollte sie nur provozieren? Oder ist es doch so, dass die ÖVP-Spitze ihre Wähler nicht mehr kennt bzw. die Wähler ihre ÖVP nicht wiedererkennen?

Die Entfremdung vom ehemals treuen Wähler lässt sich jedenfalls nicht leugnen. Die Ex-Großparteien sind orientierungslos geworden, in nahezu allen Bereichen. Wie lauten noch gleich die Rezepte der SPÖ gegen die Eurokrise? Wer kennt die familienpolitischen Konzepte der ÖVP? Oder genereller: Wie stellt sich die jeweilige Partei das Land in 20 Jahren vor? Gar nicht.

Ein wesentlicher Teil der Schuld liegt einerseits bei den Parteiführern, die nicht willens oder in der Lage sind, stringente Positionen zu formulieren, und zwar auch gegen innerparteiliche Widerstände. Es ist kein Zufall, dass beide im Wahlkampf ihren Markenkern pflegen. Bei den Themenklassikern ziehen intern wenigstens alle am selben Strang. Das ist zwar regressiv, gibt jedoch Sicherheit.

Andererseits ist die Gesellschaft komplexer geworden. Dementsprechend größer wird auch das Parteienangebot im politischen Supermarkt. Nicht, dass SPÖ und ÖVP dieses für sie existenzielle Problem nicht erkannt hätten. Eine Lösung haben sie bisher aber nicht gefunden.

E-Mails an: thomas.prior@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2013)

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