Fünf Jahre nach dem Ereignis, das die Finanzwelt in ihren Grundfesten erschüttert hat, hat man aus der Lehman-Pleite noch immer keine Lehren gezogen.
Am Morgen des 15.September 2008 brachte die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers die Finanzwelt zum Stillstand: Gier und ausreichend kriminelle Energie von entfesselten Investmentbankern hatten die Weltwirtschaft im Verein mit einer überzogenen Deregulierung des Finanzmarktes an den Rand des finalen Zusammenbruchs gebracht.
Die politische Reaktion war ähnlich wie jene nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Nie wieder dürfe so etwas geschehen. Man müsse alles daransetzen, um entsprechende Verhinderungsmechanismen zu schaffen.
Jetzt, genau fünf Jahre und ein paar Billionen Dollar und Euro an aus Steuergeldern finanzierten Staatshilfen später, weiß man: Die Welt hat fast nichts dazugelernt: Das Problem mit den systemrelevanten Banken („too big to fail“) ist weiterhin ungelöst, das Geschäft mit hochriskanten Produkten ist größer, als es 2008 war, der systemgefährdende Schattenbankenbereich ist weiter unreguliert, und die Steueroasen, in denen „Zweckgesellschaften“ außerbilanziell riskant herumfuhrwerken können, blühen und gedeihen wie eh und je.
Gut: Ein paar besonders riskante Zockerprodukte wurden verboten, und den Banken wurden etwas höhere Eigenkapitalvorschriften auferlegt. Und: Bankenregulierungen sind plötzlich Thema auf internationalen Tagungen und G20-Gipfeln. Man redet über „Bankentestamente“ für deren Abwicklung und über Transaktionssteuern. Aber geschehen ist bisher nicht viel.
Die Frage, ob sich die Lehman-Pleite samt Folgen wiederholen könnte, hat deshalb eine uneingeschränkte knappe Antwort: Ja, natürlich. Denn das Hauptproblem, dass eine Reihe von Banken systemrelevant, also „too big to fail“, ist, besteht ja weiter. Dieses „Too big to fail“ war übrigens der Hauptauslöser der Finanzkrise: Wer im sicheren Wissen handelt, im Ernstfall aufgefangen zu werden (was im Übrigen einer beträchtlichen impliziten staatlichen Subvention entspricht, die Experten weltweit auf einen dreistelligen Milliardenbetrag pro Jahr schätzen), der kann andere Risken eingehen als jemand, der befürchten muss, von einer Fehlspekulation um die Existenz gebracht zu werden.
Das alles ist bekannt. Versuche, das zu ändern, werden von einer wieder stark gewordenen Bankenlobby aber erfolgreich verhindert. Zum Beispiel mit dem Killerargument, Banken seien – Stichwort Basel III – schon jetzt überreguliert.
Das ist blanker Unsinn: Banken sind insgesamt nicht über-, sondern falsch (man könnte, Verzeihung für den Ausdruck, auch sagen: vertrottelt) reguliert: Wenn die örtliche Sparkasse dem Schuster Pockerl eine neue Werkstatt finanziert (ein ziemlich risikoloses Geschäft), dann muss sie dafür Sicherheiten ohne Ende einfordern und jede Menge Eigenkapital bereithalten. Da ist es für sie schon interessanter, Griechenland-Anleihen zu kaufen. Diese müssen nämlich nicht eigenkapitalunterlegt werden, weil sie als Staatsanleihen ja „sicher“ sind. Und wenn sie einen Hedgefonds in einer Steueroase unterhält, dann kann sie unreglementiert und ungeniert zocken, bis der Arzt kommt.
Anders gesagt: Sichere Geschäfte, die der Realwirtschaft nützen (also der eigentliche Zweck einer Bank, wenn ich nicht irre), werden zu Tode reguliert und damit erschwert, für systemgefährdende Zockereien gibt es dagegen noch immer keine ausreichenden Begrenzungspflöcke. Obwohl eigentlich schon bekannt sein müsste, dass die berühmte „unsichtbare Hand des Marktes“ in einem völlig unregulierten Markt nicht funktionieren kann.
Statt immer neue regulatorische Schikanen für sinnvolle Bankgeschäfte mit der Realwirtschaft auszudenken, wäre es eine lohnende Aufgabe, einmal den absolut systemgefährdenden Bereich der Schattenbanken (die haben weltweit immerhin ein Volumen von 50.000 Mrd. Dollar) regulatorisch einzufangen. Und dann ernsthafte Schritte zu überlegen, wie man das „Too big to fail“-Problem löst. Die kommenden „Bankentestamente“ sind dafür jedenfalls zu wenig. Bevor das nicht erreicht ist, hat man aus der Lehman-Pleite keine brauchbaren Lehren gezogen. Wir leben also weiter auf einem Finanzvulkan.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.09.2013)