Schwere Paranoia in Ankara

Verstrickt in einen Korruptionsskandal, schlägt Premier Erdoğan wild um sich und gefährdet dabei seine beiden größten Errungenschaften: die Demokratisierung und den Aufschwung der Türkei.

Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Er brach das starre und korrupte kemalistische System der Türkei auf, drängte die Armee in die Kasernen zurück und führte sein Land in den vergangenen zehn Jahren als Ministerpräsident auf einen wirtschaftlichen Erfolgskurs. Doch irgendwann ist der Erfolg dem Chef der islamischen AKP zu Kopf gestiegen. Seither macht Erdoğan seine historischen Leistungen sukzessive und systematisch selbst zunichte.

Vom Demokraten wandelte er sich zu einem paranoiden Autokraten, der hinter jedem Widerspruch eine Verschwörung vermutet. Astrein war der Mann von Anfang an nicht. Sobald er freie Bahn hatte, ging er mit aller Macht gegen Kritiker in den Medien vor. Von Jahr zu Jahr traten nicht nur seine islamistische Agenda, sondern auch sein autoritärer Zug deutlicher hervor.

Dieser Verfallsprozess scheint nun sein Endstadium zu erreichen. Die Verräter wittert Erdoğan mittlerweile in den eigenen Reihen. Seine Allianz mit dem Prediger Fethullah Gülen, seinem einstigen Verbündeten im Kampf gegen die Generäle, ist zerbrochen. Das Zerwürfnis zeichnete sich schon im Frühsommer ab, als Gülen von seinem US-Exil aus die Härte verurteilte, mit der die türkische Regierung gegen die Gezi-Proteste vorging. Das gefiel dem „Sultan“ in Ankara gar nicht. Zur Strafe kündigte er an, Bildungseinrichtungen der Gülenisten zu schließen. Seither eskaliert der Machtkampf. Als im Dezember ein Korruptionsskandal ruchbar wurde, in den drei Ministersöhne verwickelt waren, war für Erdoğan klar, wer hinter den Enthüllungen stand: Gülens Leute in Justiz, Polizei und Medien. Mit der Bestechungsaffäre wollte sich der Premier nicht lange auseinandersetzen. Er bildete kurzerhand sein Kabinett um und ging zum Gegenangriff über. Anstatt den Korruptionssumpf trockenzulegen, attackierte er die Aufdecker, die er als Gülenisten verdächtigt. Hunderte Polizeibeamte ließ Erdoğan versetzen, Staatsanwälte aus dem Verkehr ziehen. Niemand sollte wagen, weiter zu ermitteln.

Im panischen Abwehrkampf suchte der Premier gar den Schulterschluss mit seinen Erzfeinden und gab ein bitteres Geheimnis preis: Der Ergenekon-Prozess müsse neu aufgerollt werden, die Urteile gegen Armee-Angehörige seien möglicherweise politisch motiviert gewesen, forciert von Anhängern Gülens in der Justiz, die sich nun (ebenso willkürlich) gegen die AKP wende. Doch von der Spaltung ist mittlerweile Erdoğans eigene Partei bedroht. Abgeordnete traten bereits aus der Partei aus. Und Präsident Abdullah Gül mahnte seinen ehemals engen Weggefährten Erdoğan öffentlich, die Justiz arbeiten zu lassen. In der AKP schwelt ohnedies schon länger ein Machtkampf. Erdoğan will im August nach dem Vorbild Putins ins Präsidentenamt wechseln. Diese Rochade wird für den Premier nicht einfacher, wenn sein Land noch tiefer im Chaos versinkt.

Zwischen Machtrausch und Verfolgungswahn gefährdet Erdoğan seine größten Errungenschaften: die Demokratisierung der Türkei und den wirtschaftlichen Aufschwung. Die türkische Lira hat an Wert verloren. Die Investoren glauben nicht mehr an das Erfolgsmodell Erdoğan.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2014)

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