Die Schweiz muss wirtschaftliche Interessen vor Nationalismus stellen

File photo of a poster against the ´mass immigration initiative´ of the Swiss Socalist Party SPS in Bern
File photo of a poster against the ´mass immigration initiative´ of the Swiss Socalist Party SPS in Bern(c) REUTERS (RUBEN SPRICH)
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Für die Eidgenossen würde großer Schaden entstehen, wenn sie das Abkommen zur Personenfreizügigkeit mit der Union kappten.

Wer eine Beziehung beendet, hat meist einen triftigen Grund – und dazu zählt zweifellos das Verletzen einer unter Partnern getroffenen Vereinbarung. Auch die EU könnte sich zu einem so weitreichenden Schritt veranlasst sehen: Das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen Bern und Brüssel steht gerade vor der größten Bewährungsprobe seit sehr langer Zeit. Stimmen die Eidgenossen an diesem Sonntag für die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ der nationalkonservativen Volkspartei (SVP), würde die Union mehrere bilaterale Verträge kappen, mahnen Politologen und EU-Rechtsexperten. Immerhin müsste die mit Brüssel vertraglich festgelegte Personenfreizügigkeit für EU-Bürger dann einem Kontingentsystem weichen.

Die Schweizer sollten gewarnt sein – und zwar nicht in erster Linie deshalb, weil Kommissionschef José Barroso dieses Szenario im Vorjahr drohend als „Unfall“ bezeichnet hatte und die angeknackste Beziehung zu Brüssel damit einen weiteren Tiefpunkt erreichen würde. Es sind vor allem wirtschaftliche Gründe, warum das Abkommen für den etwas mehr als acht Millionen Einwohner zählenden Alpenstaat wichtig ist.

Der freie Zugang zum Binnenmarkt mit 500 Millionen Konsumenten ist für die EU nämlich untrennbar an die Personenfreizügigkeit geknüpft. Das machte zuletzt auch die mächtige Justizkommissarin Viviane Reding in der hitzigen Debatte um die Arbeitsmarktfreizügigkeit innerhalb der Union deutlich, nachdem Großbritanniens Premier David Cameron laut über Kontingente für den Zuzug von EU-Ausländern nachgedacht hatte.

Für die Schweiz ist der wirtschaftliche Austausch mit den EU-Mitgliedstaaten essenziell: Ein Drittel der Arbeitsplätze im Land ist davon abhängig, der gesamte Geschäftsverkehr beträgt beeindruckende 700 Millionen Euro pro Tag. Die geringe Arbeitslosigkeit von etwas mehr als drei Prozent würde wohl im Nu in die Höhe schnellen, wäre der Zugang zum EU-Binnenmarkt eingeschränkt. Auch die Zuwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte spielt für das Land eine große Rolle, wie ein neuer Bericht der Regierung zeigt. Eine große Zahl Ingenieure, Apotheker und Anwälte kommt aus der Europäischen Union. Die Freizügigkeit hat dazu beigetragen, den Fachkräftemangel in diesen Bereichen zu lindern. Das gilt insbesondere für die wichtige Berufsgruppe der Ärzte, von denen in der Schweiz nur 700 bis 800 pro Jahr ausgebildet, aber 1200 bis 1300 benötigt werden.

Freilich spielen die aktuellen Zuwanderungszahlen den Argumenten der Nationalisten in die Hände: Allein 2013 kamen um 84.000 mehr Menschen aus den EU-Mitgliedstaaten in das Land, als dorthin auswanderten. Die Schuldenkrise hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Schweiz als Wohn- und Arbeitsort für EU-Bürger noch beliebter wurde.

Das subjektive Empfinden vieler Eidgenossen, das kleine Land mit knapp einem Viertel Ausländeranteil in der Bevölkerung könne den Zuzug bald nicht mehr verkraften, nimmt die Regierung deshalb zu Recht ernst. Im vergangenen Jahr hat Bern die Ventilklausel aktiviert, um die Zahl der langfristigen Aufenthaltsbewilligungen für EU-Bürger zu begrenzen.


Der Bruch des Freizügigkeitsabkommens mit der EU wäre aber ein weit größerer Schritt – und Regierung, Parlamentsmehrheit und Wirtschaftsverbände sind aus gutem Grund dagegen. Auch die Bevölkerung sollte sich dieser Meinung anschließen und am Sonntag gegen die Initiative stimmen. Der Wunsch in Bern, die Kooperation mit der Union in Fragen des Binnenmarkts zu erweitern – die Verhandlungen sollen in diesem Jahr starten –, würde sonst ins Gegenteil verkehrt. Mit gutem Recht könnte die EU ihre Drohung wahrmachen und auch andere bilaterale Abkommen im Wirtschaftsbereich aufkündigen.

An eine gemeinsam getroffene Vereinbarung müssen sich beide Partner halten. Im Fall der Schweiz wären es sogar egoistische Gründe, dies zu tun. Sonst kann es nämlich passieren, dass die Beziehung in die Brüche geht – und das schneller, als den Eidgenossen lieb sein kann.

E-Mails an: anna.gabriel@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2014)

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