Mauerfall 2.0: Warum sich die EU an 1989 erinnern sollte

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Die politischen Rahmenbedingungen rund um die Ukraine sind ähnlich wie damals, nur die Verflechtung mit dem Regime in Moskau ist eine stärkere.

Der Funke, der die Revolution in der Ukraine entzündete, hieß Europa“, schrieb Timothy Snyder. Der Yale-Historiker erinnerte die EU am vergangenen Wochenende an ihre Verantwortung gegenüber der Ukraine und an die Chance, dieses Land in der Nachbarschaft auf einen wirtschaftlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Reformkurs zu leiten. Das klingt wie so oft dieser Tage nach einer Neuauflage der Wende 1989. Deutschlands Außenminister, Frank-Walter Steinmeier, hat schon zuvor erklärt, dass sich Europa in der „schärfsten Krise seit dem Mauerfall“ befinde. Er gab anders als Snyder der Entwicklung damit ein negatives Vorzeichen. Vielleicht auch, weil die SPD schon vor 25 Jahren ihre Mühe mit politischen Umbrüchen im Osten hatte.

Doch was kann die EU heute aus dieser Erfahrung lernen, welche Parallelen kann sie nutzen? Die politische Dynamik ist tatsächlich durchaus ähnlich. In Osteuropa brachen einst die Moskau-treuen Regime aus zwei Gründen zusammen: zum einen, weil sich die Bevölkerung eingeschränkt, kontrolliert, also unfrei gefühlt hatte. Zum anderen, weil ihre Regierungen reformunwillig, träge und wirtschaftspolitisch erfolglos waren. Ähnlich sind jetzt die Rahmenbedingungen in der Ukraine. Der Fall der Mauer wäre vielleicht ausgeblieben, wären die DDR und die Sowjetunion nicht wirtschaftlich angeschlagen gewesen. Erst die Kombination aus einer politischen und wirtschaftlichen Krise löste die Dynamik des Umbruchs aus.

Heute wie damals sehen die Menschen im Osten die Europäische Union als Antwort. Dass EU-Fahnen auf dem Maidan geschwungen wurden, können einige EU-Kritiker nicht verstehen. Doch haben auch 1989 manche politischen Kräfte im Westen die Signale des Umbruchs nicht erkennen wollen. Wer sich in nationalistischer Nabelschau übt, wird historische Chancen in der Nachbarschaft eben nie erkennen.

Die wichtigste Parallele ist aber, dass die EU damals wie heute der Angelpunkt einer Neuorientierung in der Nachbarschaft ist. Umso unverständlicher ist es, dass sich einige europäische Regierungen – auch die österreichische – nun am liebsten vor der Verantwortung drücken wollen. Eine Verzögerung bei dem von der EU in Aussicht gestellten Assoziierungsabkommen für die Ukraine würde sich als kontraproduktiv herausstellen. Den EU-Regierungen blieb bei ihrem Gipfel gar keine andere Wahl, als hier rasch die Weichen zu stellen.
Die Bevölkerung der Ukraine braucht den Anker im Westen, soll sich das Land reformieren. Es braucht das nun beschlossene finanzielle Milliardenhilfspaket, will die EU diese Reformen in die richtige Richtung lenken. Es braucht aber wie bei der Wende '89 auch eine langfristige Perspektive auf einen EU-Beitritt. Nur so kann die EU weiterhin dazu beitragen, dass sich das Land zu einem funktionierenden Rechtsstaat entwickelt, dass Korruption und organisierte Kriminalität ausreichend bekämpft werden. Seit den allzu frühen Beitritten von Rumänien und Bulgarien weiß Brüssel freilich auch, dass es hier nicht um Tempo, sondern um Qualität geht. Derzeit braucht es lediglich das klare Signal einer geöffneten Tür, die aber vom gestrigen EU-Gipfel nicht gekommen ist.

Warum nicht? Wohl auch deshalb, weil eine wichtige Rahmenbedingung ganz anders als bei der damaligen Wende ist: Die wirtschaftliche Verflechtung mit dem Regime in Moskau ist heute viel stärker, die gegenseitige Abhängigkeit ebenso. Russland geht es wie damals um seinen geopolitischen Einfluss, der – so scheint es – für einige EU-Regierungen in der EU sakrosankt ist. Sanktionen gegen Russland würden auch die EU selbst treffen, kann Wladimir Putin argumentieren und findet dafür Gehör. Aber der russische Präsident weiß auch um seine eigene Abhängigkeit vom Westen und seine Verwundbarkeit.
Die EU, das wurde durch die jüngste Entwicklung auf der Krim deutlich, kann sich in ihrem Instrumentarium zur Lösung dieser Krise nicht selbst beschränken. Andernfalls bremst sie die Dynamik der nächsten großen Wende in Osteuropa. Und sie nimmt sich die Chance, diese noch einmal mitzugestalten.

E-Mails an:wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2014)

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