Menschen ohne Wert, Land ohne Zukunft

Der Oberste Gerichtshof bescheinigt einem behinderten Kind einen Wert von exakt null für seine Eltern.

Der Schauspieler Tobias Moretti hat im Vorjahr eine vielbeachtete Rede gehalten: über den Wert des Menschen. „Es ist die Norm, die mir Sorge macht“, hat Moretti da erklärt: „Gesund, jung, fit, schön. Wie soll man heute erklären, dass es eine Gesellschaft reicher macht, Platz zu haben für das nicht Normale, für das Welke, für das Sterben; es gehört einfach dazu, das ist ja, als würde man eine Jahreszeit wegkürzen, als würde man den Herbst abschaffen.“

Moretti warnte davor, den Menschen nur im Kosten-Nutzen-Kalkül zu betrachten, das bei Behinderung, Krankheit oder Siechtum ins Minus kippt: „Wenn dieser der Menschlichkeit enthobene Pragmatismus zum Cantus firmus der politischen Kompetenz wird, dann wird es so sein, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man ein behindertes Kind zur Welt bringt oder einen debilen alten Menschen pflegt, dann ist das plötzlich ,Privatvergnügen‘.“

Daran wird man durch ein aufsehenerregendes Urteil des Obersten Gerichtshofs erinnert. Was war geschehen? Ein Paar erwartet ein Kind, will dieses auch – aber nur, wenn es gesund ist. Bei der Untersuchung im Krankenhaus fällt der Ärztin die schwere Behinderung des Fötus nicht auf. Das Kind bleibt daher am Leben und kommt behindert zur Welt. Das Krankenhaus muss nun für den Schaden aufkommen, den die Eltern davon haben, dass sie ein Kind aufziehen müssen, das sie eigentlich nicht wollten.

Schadenersatz in solchen Fällen ist mittlerweile auch in Österreich geübte Praxis, was die damit verbundenen ethischen Fragen freilich nicht weniger beunruhigend macht. Aber in diesem Fall kommt etwas besonders Bedenkliches dazu. Früher sah die Abwägung nämlich so aus: Eltern wünschen sich ein gesundes Kind, bekommen aber ein behindertes – und der „Schuldige“ an der Existenz dieses behinderten Kindes muss den Mehraufwand tragen, der durch die Behinderung entsteht. Nun ist aber das Höchstgericht der Argumentation der Eltern gefolgt: Bevor wir so ein Kind bekommen hätten, wollten wir lieber gar keines haben. Daher besteht der Schaden nicht bloß in den zusätzlichen Kosten durch die Existenz einer Behinderung, sondern in allen Kosten, die durch die Existenz des Kindes entstehen – Kleidung, Essen, Spielzeug, alles.

Das Urteil bestätigt, dass dieses behinderte Kind so viel wert ist wie gar kein Kind. Zu 100 Prozent ein Schadensfall. Da ist kein Wert, kein Nutzen und kein Vorteil aus seiner Existenz, den die Richter gegen die Belastungen gegengerechnet hätten. Da wird im Urteil nichts genannt, was positiv für das Kind zu Buche schlagen würde: Es ist seinen Eltern ausschließlich Kostenverursacher.

Man fragt sich, wie das Kind damit klarkommt. Der Bub, heute sechseinhalb Jahre alt, ist geistig ja ganz da, ein intelligentes Kind. Man muss sich aber auch fragen, wie die Gesellschaft damit klarkommt. Wenn eine Behinderung den Wert eines Menschen sofort auf null reduziert, haben wir dann nicht ein Stadium erreicht, wo Gesundheit auf geradezu perverse Weise überbewertet ist? Wenn Kinder kein eigener Wert ungeachtet ihres Gesundheitszustandes mehr zugerechnet wird, hat dann Elternschaft noch einen Wert? Haben wir es hier nicht mit einem kulturzerstörenden Verlust an Vitalität und Lebenszugewandtheit einer ganzen Gesellschaft zu tun, deren langsames Aussterben davon Zeugnis gibt?

Natürlich ist das Wertlosigkeitsurteil, das über den Behinderten hier ausgesprochen wird, schon längst in der Abtreibungspraxis manifest. Aber in höchstrichterlicher Form, einem geborenen, unter uns sichtbar lebenden Menschen gegenüber ist das in diesem Umfang neu. Anlasten kann man das vielleicht nicht so sehr den Richtern, die geltendes Gesetz so korrekt wie möglich auszulegen versucht haben. Der Rahmen für diese Auslegung wird von der Politik gemacht, und die lässt sich viel Zeit, obwohl längst eine Reihe von qualifizierten Vorschlägen zum Schadenersatzrecht vorliegt. Offenbar haben die Regierungsparteien derzeit Wichtigeres zu tun.


Es wäre nicht fair, hier über die Eltern herzuziehen. Behinderte großzuziehen ist auch Leid, Depression, Angst, Kraftanstrengung, Mühsal, Verzweiflung. Man kann niemandem einfach so sagen: Das musst du halt ertragen! Schon gar nicht, wer selbst nicht in dieser Situation steht. Sich eine positive Einstellung zu bewahren, egal wie es mit einem Kind weitergeht, ob es nie älter als zehn Jahre alt wird, ob es je einem Fußball nachrennen wird, jemals laut lachen wird – das ist eine Herausforderung, die nicht jeder meistern kann. Trotzdem: Als Gesellschaft kann man sich nicht weniger leisten als das prinzipielle Werturteil zugunsten jedes, auch des behinderten Menschen. Es ist die einzige Haltung, mit der eine Zivilisation lebenswert bleibt.


michael.prueller@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2008)

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