Gefangene der eigenen Rhetorik: Ukraine-Krise hat keine Stopptaste

UKRAINE CRISIS
UKRAINE CRISIS(c) APA/EPA/ROMAN PILIPEY
  • Drucken

Keiner will einen Wirtschaftskrieg oder gar eine militärische Eskalation, dennoch taumeln die Ukraine, Russland und Europa in den Abgrund.

In der Ostukraine ist eine Dynamik in Gang geraten, die niemand mehr beherrschen kann, weder in Kiew noch in Moskau noch im Westen. Ein paar Schüsse reichen, und das Unheil könnte seinen Lauf nehmen. Keiner will Krieg, und sei es auch „nur“ ein Wirtschaftskrieg: Dennoch erscheint es nicht mehr ausgeschlossen, dass Russland, die Ukraine und Europa gemeinsam in den Abgrund schlittern – mit Anlauf und sehenden Auges.

Der russische Präsident, Wladimir Putin, pflegt sein Image als kühl kalkulierender Hexenmeister. Doch was, wenn auch er nur ein Zauberlehrling ist und die Geister, die er im Osten der Ukraine rief, nun nicht mehr loswird? Die prorussischen Milizen zwischen Slawjansk und Donezk mögen den Herrscher im Kreml verehren. Ob sie auf ihn hören und überhaupt eine Stopptaste eingebaut haben, ist weniger klar. Wobei sich diese Frage derzeit lediglich hypothetisch stellt: Denn bisher machte die russische Regierung keine Anstalten, dem Treiben jenseits der Grenzen auch nur rhetorisch Einhalt zu gebieten.

Im Gegenteil: Wenn es das Ziel Putins war, die Ukraine zu destabilisieren, dann ist diese Taktik aufgegangen. Die Regierung in Kiew hat die Kontrolle über den russisch geprägten Osten verloren; das musste jüngst sogar Präsident Turtschinow eingestehen. Die Ukraine ähnelt östlich des Dnjepr immer mehr einem scheiternden Staat. Es herrscht Anarchie in einzelnen Städten. Freischärler haben das Kommando an sich gerissen, öffentliche Gebäude besetzt und Geiseln genommen. Sie möchten die Donbass-Region nach dem Vorbild der Krim von der Ukraine abspalten und am 11.Mai darüber in Referenden abstimmen lassen.

Der hastige Zeitplan lässt die Absicht erkennen. Russland und die grünen maskierten Männchen, die es allem Anschein nach über die Grenze geschickt hat, wollen die ukrainischen Präsidentenwahlen am 25.Mai untergraben oder gar verhindern. Der Ukraine soll damit auch drei Monate nach dem Sturz des moskauhörigen Staatschefs Viktor Janukowitsch die Chance für einen Neustart mit einer demokratisch legitimierten Führung geraubt werden. Moskau hat noch länger nicht die Absicht, die Beziehungen zu seinem Nachbarstaat zu normalisieren. Schwer zu sagen, ob sich eine langfristige Strategie dahinter verbirgt. Doch möglicherweise will Putin, berauscht von der patriotischen Euphorie nach dem relativ reibungslosen Anschluss der Krim, weitere ukrainische Gebiete annektieren, um Russland 23 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zu neuer vermeintlicher Größe zu verhelfen. Eines steht jedenfalls fest: Der Mann im Kreml sieht kein Problem darin, Grenzen zu verschieben.


Die europäischen Drohungen, harte Wirtschaftssanktionen zu verhängen, hat er bisher zu Recht nicht ernst genommen. Hinter vorgehaltener Hand lehnt es die schweigende Mehrheit der EU-Regierungen ab, auf russische Gaslieferungen zu verzichten. Denn damit würden sie nicht nur Russland, sondern auch ihren eigenen Ländern schaden. Trotzdem ist dieses Szenario, auch wenn es letztlich allseits unerwünscht ist, nicht mehr von der Hand zu weisen. Die EU hat sich dermaßen weit hinausgelehnt, dass sie im Fall einer russischen Invasion in der Ostukraine gar nicht mehr anders könnte, als Moskau (und sich selbst) mit Boykottmaßnahmen zu strafen.

In diesem Nervenkrieg sind inzwischen alle auch Gefangene ihrer eigenen Rhetorik. Die ukrainische Führung kann nicht länger tatenlos zusehen, wie ihr Gewaltmonopol im Osten gebrochen wird, auch wenn sie damit eine russische Invasion riskiert. Putin wiederum hat sich selbst unter Zugzwang gesetzt, indem er eine nationalistische Welle ausgelöst und den „Schutz“ aller Russen, also auch sezessionistischer Wirrköpfe in der Ukraine, versprochen hat. Er „muss“ fast eingreifen, wenn in der Ukraine russisches Blut in Strömen fließt. Eine Fortsetzung der russischen Expansionspolitik könnte jedoch, wie gesagt, der Westen nicht mehr achselzuckend hinnehmen.

Verstrickt in ein Netz aus Drohungen, Bluffs und Emotionen: Das ist der Stoff, aus dem die Tragödien dieses Kontinents gemacht sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass Europa in eine Katastrophe taumelt, die niemand wollte.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.