Die Eskalation des Gasstreits sollte Europa daran erinnern, dass mehr EU in manchen Bereichen durchaus sinnvoll ist – etwa in der Energiepolitik.
Heute und morgen gibt es zwar die Wahrscheinlichkeit kleinerer Regenschauer. Ab Mittwoch wird es aber wieder durchgehend sonnig mit Temperaturen, die konstant über 20 Grad liegen.
Der Wetterbericht für Kiew ist wohl die erfreulichste Nachricht, die am gestrigen Montag aus der Ukraine gekommen ist. Denn aufgrund der sommerlichen Temperaturen werden die Auswirkungen des russischen Gaslieferstopps nicht so drastisch ausfallen. Dennoch werden die Ukrainer entweder auf Speicher zurückgreifen müssen oder das für Europa ins Netz gespeiste Transitgas verwenden, um ihre Kraftwerke und Industriebetriebe am Laufen zu halten. Machen sie Letzteres, werden die Russen den Gashahn wohl wieder komplett zudrehen, wie sie es 2006 und 2009 bereits gemacht haben.
Wer an dieser jüngsten Eskalation Schuld hat, ist eine müßige Frage. Die Ukrainer wollen die politische Loslösung von Russland und müssen daher akzeptieren, dass sie dadurch auch ihren Status als bevorzugter Kunde mit „Bruderrabatten“ verlieren. Die Russen wissen aber natürlich, dass die Ukraine diesen Übergang nicht von einem Tag auf den anderen schaffen kann, und nutzen ihre Macht daher schamlos aus.
Entscheidend bei der ganzen Sache ist aber eines: Europa ist wieder einmal in Geiselhaft eines seit zehn Jahren schwelenden Konfliktes.
Überraschend sollte es also für niemanden sein, dass dieser Dauerkonflikt erneut eskaliert. Dass die politische Lage so explosiv ist und dabei auch Waffen verwendet werden, hat lediglich dazu geführt, dass die Eskalation bereits im heißen Sommer eingetreten ist und man in Moskau aus taktischen Gründen nicht bis zum nächsten Winter gewartet hat.
Europa weiß also seit Langem, dass einer der wichtigsten Energielieferanten jederzeit kurzfristig ausfallen kann. Wie wurde jedoch bisher darauf reagiert? Das Netz wurde so umgebaut, dass Gas nicht nur von Ost nach West, sondern auch von West nach Ost fließen kann. Das ist eine wichtige Maßnahme, damit osteuropäische Länder von den Speichern in Westeuropa versorgt werden können. Und die einst aufgrund ihrer Kosten heftig kritisierten Gasspeicher werden von niemandem mehr infrage gestellt.
Das ist zwar nicht nichts, aber von einer echten europäischen Energiestrategie ist man damit noch weit entfernt.
Energiefragen sind in Europa nämlich traditionell Ländersache. In Brüssel darf man sich zwar die Köpfe über die Größe von Traktorsitzen zerbrechen, wie der größte Wirtschaftsraum der Welt jedoch mit lebensnotwendiger Energie versorgt wird, bleibt den 28 Mitgliedstaaten überlassen. Und das wird von den nationalen Regierungen auch mit Zähnen und Klauen verteidigt. Weil etwa die Franzosen die paranoide Angst haben, sonst ihre AKW abdrehen zu müssen. Und die Österreicher die paranoide Angst haben, sonst AKW bauen zu müssen.
Als Folge dieser nationalistisch angehauchten Hysterie gegenüber mehr Brüssel in Energiefragen geht nicht nur die Chance verloren, die physischen Hindernisse an den innereuropäischen Grenzen komplett abzubauen. Auch gegenüber wichtigen Lieferanten wie etwa Russland könnte ein gemeinsamer Auftritt mehr Verhandlungsmacht bringen.
Und es würde bei Energielösungen vielleicht auch endlich im Mittelpunkt stehen, was aus Sicht der gesamten Union am sinnvollsten ist. Strategisch und geopolitisch wichtige Projekte wie die gescheiterte Gaspipeline Nabucco würden dann nicht mehr einfach fallen gelassen. Denn die Leitung hätte gerade den von Russland besonders abhängigen Ländern Osteuropas eine neue Gasquelle gebracht.
In den USA ist die Sicherheit der Energieversorgung eine Frage oberster Priorität, die sogar militärisch beantwortet wird. In Europa wird diese Politik immer heftig kritisiert – manchmal zu Recht. Dennoch sollte man auch hierzulande endlich erkennen, dass die Versorgungssicherheit bei Energie einfach zu wichtig ist, um das Thema nur aus der Perspektive von – global gesehen – kleinen Nationalstaaten zu betrachten.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2014)