Wer sich von der Welt abwendet, bei dem klopft sie bald an die Tür

(c) REUTERS (AHMED JADALLAH)
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Ob im Mittelmeer oder an der Südgrenze der USA: Außenpolitische Versäumnisse kommen als Flüchtlingswellen auf den reichen Norden zurück.

Die Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten von Amerika ist ein Scherbenhaufen. Die kollektive Panik nach den Mordanschlägen vom 11.September 2001 hat eine hunderte Milliarden Dollar teure Aufrüstung des Grenzschutzes und die Schaffung eines zentralen Heimatschutzministeriums gebracht; sie hat die Erteilung von Sichtvermerken an Studenten, Forscher und Fachkräfte derart verteuert und in einen bürokratischen Albtraum verwandelt, dass sich Kanada seit Jahren eines Zustroms hervorragender Wissenschaftler und einfallsreicher Firmengründer erfreut; sie hat die Einreise in die USA – jahrzehntelang ein freudiges Ereignis der Ankunft in einem freien, großzügigen Land – für den Feriengast zu einer oft empörend übergriffigen Beamtshandlung durch ungebildete und rüde Grenzer verkommen lassen; und sie hat die Südgrenze zu Mexiko in eine bedenkliche militarisierte Sonderzone verwandelt.

Und dennoch: Trotz all der Drohnen, die über der Grenze zu Mexiko surren, der Infrarotkameras und Hundestaffeln und der hunderte Kilometer langen Grenzzäune in Texas und Arizona kommen seit Jahresbeginn zehntausende Kinder aus Zentralamerika in den USA an. Was treibt diese Kleinen an, tausende Kilometer durch unwirtliche Gegenden zu reisen? Manche haben Eltern in den USA, die vor Jahren heimlich eingewandert sind, hart schuften und nun auf ein Wiedersehen hoffen. Doch die Übersicht ihrer Herkunftsorte zeigt, dass sie aus einer der gewalttätigsten und ärmsten Ecken der Welt fliehen. Honduras, El Salvador und Guatemala belegen in der Weltbankstatistik der höchsten Mordraten die Ränge eins, zwei und fünf.


Kann man es diesen Kindern verdenken, dass sie vor so einem Elend Reißaus nehmen? Man muss schon ein sehr kaltes Herz haben, um eine Zwölfjährige nach Guatemala zurückzuschicken, wo sie vielleicht von einer Straßenbande zum Eintreiben von Schutzgeld vergattert wird. Aber natürlich kann es so nicht weitergehen. Die USA können nicht zum Sammelbecken für arme Kinder aus Krisenregionen werden – und zwar nicht aus Kostengründen (die haben, wenn es um Leben und Tod geht, stets in den Hintergrund zu rücken), sondern weil Kinder eine Familie und ein sicheres Zuhause brauchen.

Die Kinderflüchtlingskrise lässt sich nur lösen, wenn man ihre Ursachen in Angriff nimmt. Und die lassen sich, so verschieden die Probleme in Honduras, El Salvador und Guatemala auch sind, auf einen Nenner bringen: staatliches Versagen. Die politischen Systeme dieser Staaten sind zu schwach, um unter dem Druck korrumpierender organisierter Kriminalität der Zivilgesellschaft ein dauerhaftes Gerüst zu verleihen.

Es wäre unsinnig, die US-Regierung zu einer sozusagen wohlgesinnt-aufgeklärten Neuauflage ihrer problematischen Interventionspolitik des Kalten Krieges anzuspornen. Die „Yanquis“ sind in Lateinamerika vielerorts verhasst, was angesichts der einstigen Unterstützung rechtsradikaler Todesschwadronen durch die CIA nicht verwundern sollte. Was die zentralamerikanischen Problemrepubliken brauchen, ist Hilfe zur Selbsthilfe, und da vor allem die Unterstützung der Bürger darin, ihre Regierungen für Misswirtschaft und Korruption zur Verantwortung zu ziehen und saubere Gerichte sowie ein funktionierendes Sozialwesen aufzubauen.


Man nennt das Nation-building, und es gab eine Zeit, da waren die Amerikaner richtig gut darin: Wir Europäer sollten das am besten von allen wissen. Wir Europäer haben übrigens unsere eigene Flüchtlingskrise im Mittelmeer, und auch hier muss man feststellen: Zu lang haben wir die Augen vor den sozialen und politischen Pulverfässern in Afrika und im Nahen Osten zugedrückt. Wir haben erst gehofft, dass uns Despoten wie der Libyer Gaddafi oder der Ägypter Mubarak die Flüchtlingsströme vom Hals halten, und dann, dass der Arabische Frühling schon von selbst zu einem wohlgefälligen Ausgang finden würde. Welch Irrtum! Europas politische Tatenlosigkeit angesichts der größten Umwälzungen in seinem Süden seit einem Jahrhundert rächt sich bitter – und keine noch so teure Aufrüstung des Grenzschutzes wird das ändern.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2014)

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