Wer seine neue Heimat nicht versteht, ist nicht angekommen

Deutschland darf Familiennachzug nicht an Sprachkenntnisse knüpfen, befindet der EuGH – ein problematisches Urteil in einer diffizilen Causa.

Mit fünf Urteilsverkündungen war der gestrige Donnerstag ein ganz normaler Arbeitstag am Europäischen Gerichtshof. Die Luxemburger Richter, die als oberste Instanz des gemeinsamen Binnenmarkts ein besonders weites Feld zu beackern haben, befassen sich im Normalfall mit Angelegenheiten von hoher sachlicher Komplexität und niedriger sozialer Sprengkraft. Gestern beispielsweise ging es um die Frage, ob Kräutermischungen mit synthetischen Cannabinoiden als Arzneimittel verkauft werden dürfen (nein), weiters um die marktbeherrschende Stellung des spanischen Telekomkonzerns Telefónica und den markenrechtlichen Schutz von Apples Flagship-Stores sowie darum, ob Griechenland EU-Fördergelder für landwirtschaftliche Kulturpflanzen zurückerstatten muss (muss es). Der fünfte Richterspruch jedoch war von einem gänzlich anderen Kaliber, denn im Mittelpunkt der Rechtssache Naime Dogan gegen die Bundesrepublik Deutschland standen nicht iPads, Kräuter und Kulturpflanzen, sondern die mit Abstand fundamentalste Kulturtechnik – die Sprache.

Wie der EuGH gestern befand, darf Deutschland den Familiennachzug nicht an Deutschkenntnisse knüpfen – seit sieben Jahren müssen ausländische Ehepartner, die zu ihrem Gatten (bzw. Gattin) ziehen wollen, einen Sprachtest absolvieren, bevor sie das Visum erhalten. Eingebracht wurde der Fall von der Frau eines seit 1998 in Deutschland lebenden türkischen Geschäftsmanns, der die Einreise wiederholt verweigert wurde – mit der Begründung, sie sei des Deutschen nicht mächtig.

Nach Ansicht der Luxemburger Richter hat die deutsche Regierung gleich zweimal Unrecht begangen: Erstens, weil sie mit der Praxis weit über das erklärte Ziel – die erfolgreiche Integration der Einwanderer – hinausschießt. Und zweitens, weil sie damit ein in den 1970er-Jahren fixiertes Abkommen zwischen der EU und der Türkei verletzt, demzufolge es keine neuen Beschränkungen für die Niederlassungsfreiheit geben darf. Rein juristisch betrachtet ist die Angelegenheit also klar – Frau Dogan darf endlich zu ihrem Ehemann. Und dennoch lässt das Urteil den Beobachter mit dem Gefühl zurück, dass dies nicht der Weisheit letzter Schluss sein könne. Denn die Causa ist vielschichtiger und diffiziler, als es der gestrige Richterspruch suggeriert.

Nehmen wir die eingangs erwähnte Kulturtechnik: Wer (wie der Autor dieser Zeilen) Deutsch nicht von klein auf gelernt hat, weiß um die Bedeutung der Sprachkenntnisse für den Neuankömmling – und das abseits ihrer naheliegendsten und oft angesprochenen Funktion als Türöffner im Geschäft, auf dem Bezirksamt oder beim Arzt. Es mag zwar banal klingen, aber solange die Sprache der neuen Heimat unverständlich bleibt, so lange bleibt auch ihre mentale Landkarte fremd, die sich aus unzähligen Redewendungen, Anekdoten, Allusionen und Schmähs zusammensetzt. Wer aber nicht versteht, wie seine neuen Landsleute ticken, ist nie richtig angekommen.

Und genau hier stellt sich die Frage, ob auch wirklich alle Einwanderer ihre Neo-Mitbürger verstehen wollen. In manchen Communitys gilt nämlich Anpassungsbereitschaft als Schwäche und aggressiv zur Schau gestelltes Außenseitertum als Stärke – gepaart mit vorgestrigen Vorstellungen davon, welche Rollen Frauen in der Gesellschaft zu spielen haben. Es bleibt Frau Dogan zu wünschen, dass sie sich in Deutschland rasch zurechtfindet. Angesichts der medial kolportierten Tatsache, dass sie weder lesen noch schreiben kann und vier Kinder hat, steht ihr ein ziemlicher Kraftakt bevor.
Insofern sind die deutschen Bemühungen um die sprachliche Integration also berechtigt – und werden laut Umfragen von jenen Migranten, die den Test bestanden haben, auch begrüßt. Und sie sind höchst an der Zeit: Viel zu lange hing man in Deutschland (und auch hierzulande) der bequemen Illusion an, bei den Gastarbeitern aus Südosteuropa und der Türkei handle es sich nur um Besucher auf Zeit, die man weder willkommen heißen noch fördern müsse. Überspitzt formuliert wurde über Jahrzehnte konsequent an der Schaffung von bildungsfernen und integrationsunwilligen Milieus gearbeitet. Leider mit Erfolg.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2014)

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