Wer trägt Schuld am Tod von Kindern in Gaza?

MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS GAZA
MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS GAZAAPA/EPA/MOHAMMED SABER
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Die Hamas nahm die jetzige Eskalation bewusst in Kauf und den Gazastreifen kollektiv in Geiselhaft. Doch auch Israel kann seine Verantwortung nicht abwälzen, wenn es über das Ziel schießt.

Wann waren Sie das letzte Mal in Ihrem Keller? Als Sie Ihre Skiausrüstung verstauten, eine Flasche Rotwein holten? In Tel Aviv, Ashdod und Sderot rennen die Menschen mehrmals täglich in die Luftschutzkeller, um Raketen der Hamas zu entkommen. Bis Samstag ist kein Israeli bei den Angriffen getötet worden. Aus Glück und weil das Raketenabwehrsystem Eisenkuppel funktioniert. Israel kann und will dennoch nicht tatenlos zusehen, wie seine Bürger aus dem Gazastreifen beschossen werden.

Deshalb feuert die israelische Luftwaffe massiv zurück. Ins Visier nimmt sie Abschussrampen und Kommandanten radikaler palästinensischer Gruppen. Um zivile Opfer zu vermeiden, rufen die Israelis an oder werfen Flugblätter ab, bevor sie schießen. Dennoch wurden seit Beginn der Vergeltungsaktion mehr als 120 Palästinenser getötet, keineswegs nur Extremisten. Unter den Leichen, die wütende Trauernde durch die Straßen des Gazastreifens tragen, sind oft auch Kinder, bisher angeblich mehr als 20. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich.

Wer trägt die Verantwortung für den Tod dieser Menschen? Israels Premier Netanjahu versucht die Schuld abzuwälzen. Verantwortlich sei die Hamas, die ihre Raketenstellungen in Wohngebieten verstecke. Er hat recht und macht es sich doch zu leicht. In diesem Krieg behält niemand eine weiße Weste. Auch wer sich selbst verteidigt, kann sich schuldig machen, wenn er über das Ziel hinausschießt und Unbeteiligte trifft.

Und doch sind die Auslöser der Eskalation in den Reihen der Hamas zu suchen. Die Extremisten wussten, wie die Antwort ausfällt, wenn sie wahllos hunderte Geschosse auf israelische Städte abfeuern. Sie nahmen den Gewaltexzess bewusst in Kauf – und die Bewohner des Gazastreifens dabei kollektiv als Geiseln. Die Herrscher in Gaza sind geschwächt, so wie ihre Brüder im benachbarten Ägypten. Und seit sie offen gegen Syriens Diktator Assad aufgetreten sind, haben sie auch ihre iranischen Unterstützer verprellt. Deshalb ließ sich die Hamas vor ein paar Wochen auf eine Einheitsregierung mit der Fatah von Palästinenser-Präsident Abbas ein, und deshalb will sie sich nun mit dem „Widerstand“ gegen Israel profilieren.

Das Drama wiederholt sich, das letzte Mal kam es vor zwei Jahren zur blutigen Aufführung. Damals endete der Raketenkrieg nach acht Tagen; Ägypten hatte eine Waffenruhe vermittelt. Auch diesmal hofft man auf Kairo. Doch dort sitzt nicht mehr die Muslimbruderschaft, die Mutterorganisation der Hamas, an der Macht, sondern deren erbitterter Feind, Ex-General al-Sisi. Und er will die palästinensischen Islamisten offenbar noch etwas schmoren lassen. An einem Sturz der Hamas hat allerdings derzeit niemand Interesse, auch nicht Netanjahu. Die Islamisten sind eine bekannte Größe, hinter ihnen aber lauern noch radikalere Gruppen. Beide Seiten haben ihr zynisches Spiel mit dem Feuer berechnet. Doch es kann schnell außer Kontrolle geraten. Neulich flogen Raketen aus dem Libanon nach Israel. Bahnt sich ein Zweifrontenkrieg an?


Aufgewühltes Israel. Auch in Israel hat die Auseinandersetzung eine innenpolitische Dimension. Der bestialische Mord an drei jüdischen Burschen im Westjordanland wühlte die Nation auf und bereitete den Boden für die jetzige Eskalation. Netanjahu muss Stärke zeigen, sein Außenminister Lieberman drängt auf eine härtere Gangart. Schon machen sich israelische Bodentruppen bereit, wie schon 2012. Damals überschritten sie die Grenze nicht. Auch diesmal will Netanjahu vermutlich eine Invasion vermeiden. Der Blutzoll wäre hoch, ebenso wie der internationale Imageverlust Israels.

Und das Ergebnis? Irgendwann wird auch diese Runde enden – mit unveränderten Machtverhältnissen in Gaza. Die Hamas wird ein paar hundert Raketen weniger haben, ihr Arsenal aber rasch wieder auffüllen. Nur die Toten bleiben für immer unter der Erde. Welch sinnloser Krieg! Vielleicht hat sich die Welt deshalb längst abgewendet.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2014)

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