Der mutmaßliche Abschuss einer Passagiermaschine über der Ukraine markiert eine Wende – sie kann in alle Richtungen führen, auch in die richtige.
Verstreut über ostukrainische Weizenfelder lagen Leichen aus mindestens zehn Staaten: 189 Niederländer, 44 Malaysier, 27 Australier, zwölf Indonesier, neun Briten, vier Deutsche, vier Belgier, drei Filipinos, ein Kanadier und ein Neuseeländer. Schauerlicher und zugleich deutlicher hätte die internationale Dimension des Kriegs in der Ostukraine nicht hervortreten können. Das Ringen um Donezk und Lugansk geht nicht nur Ukrainer und Russen an, sondern die ganze Welt.
Der Absturz des Passagierflugzeugs der Malaysian Air markiert eine dramatische Wende in der Ostukraine-Krise. Auch wenn eindeutige Beweise bisher fehlen und weder ein technischer Defekt noch eine Bombenexplosion ausgeschlossen werden kann: Etliche Indizien sprechen dafür, dass der Flug MH17 abgeschossen wurde. Der Verdacht richtet sich gegen die Separatisten in der Ukraine – und damit auch gegen Russland. Denn woher sonst sollten die Aufständischen in der Ostukraine tonnenschwere Waffen wie Luftabwehrsysteme beziehen?
Sollte sich der Verdacht erhärten und eine unabhängige Untersuchungskommission Beweise dafür erbringen, wäre der russische Präsident, Wladimir Putin, bloßgestellt und als Aggressor demaskiert. In die diplomatische Defensive gedrängt ist er schon jetzt. Mit seiner ersten Reaktion, die ukrainische Regierung für das Unglück verantwortlich zu machen, griff der Kreml-Chef ins Leere. Zu stark erschien die Indizienkette, mit der die Geheimdienste der Ukraine und der USA sehr schnell aufwarteten: Erstens wird das Gebiet, über dem die Boeing 777 vom Himmel geholt wurde, von Aufständischen kontrolliert. Zweitens brüstete sich ein Rebellenführer kurz vor ersten Meldungen über den Absturz des Passagierflugzeugs im sozialen Netzwerk VKontakte mit dem Abschuss einer ukrainischen Antonow-Transportmaschine; er erlag möglicherweise einer Verwechslung und ließ den Eintrag wieder löschen. Drittens verschwand später auf Twitter die Jubelmeldung eines Separatisten, der sich damit brüstete, ein mobiles Luftabwehrsystem des Typs Buk erbeutet zu haben.
Die Russen indes konnten zunächst keine plausiblen Erklärungen für das Unglück liefern. Zumindest die erste Runde des Propagandakriegs ging an Kiew und Putin dazu über, eine unabhängige Untersuchung zu fordern. Bis sie zustande kommt und brauchbare Ergebnisse vorliegen, kann noch viel Zeit vergehen. Vielleicht wird auch nie eindeutig geklärt, warum das Passagierflugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über ostukrainischem Kampfgebiet abgestürzt ist.
So tragisch der Flugzeugabsturz ist, er eröffnet auch neue politische Chancen. Genau jetzt böte sich die beste Gelegenheit seit Monaten, den Konflikt beizulegen. Putin hat nun vor Augen, wie unkontrollierbar sein verdeckter Krieg in der Ostukraine geworden ist. Die dortigen Separatisten stellen ein Risiko dar, das auch ihm gefährlich werden kann. Vielleicht pfeift Putin sie nun zurück.
Denn wenn der Krieg in der Ostukraine auch nach dem Flugzeugabsturz unvermindert mit russischer Waffenhilfe für die Rebellen weitertobt, dann kommen auch seine wohlmeinendsten Freunde in der EU kaum umhin, harten Wirtschaftssanktionen gegen Moskau zuzustimmen. Die Aufnahme internationaler Untersuchungen am Unglücksort wäre jedenfalls ein guter Einstieg für eine Waffenruhe und eine anschließende politische Lösung.
Option zwei: Putin spielt auf Zeit, setzt auf die Uneinigkeit des Westens und treibt in der Ostukraine sein paramilitärisches Destabilisierungsspielchen unverdrossen weiter.
Fatal wäre, wenn Putin einen dritten Weg einschlüge und seinen Einsatz in der Ukraine noch einmal erhöhte, weil er ohnehin schon mit einem langjährigen Kalten Krieg gegen den Westen rechnet. Dazu könnte er verleitet werden, falls die ukrainische Armee nun mit voller Härte und ohne Rücksicht auf Zivilisten gegen die Separatisten vorginge.
In der EU und in den USA wären nun hohen Staatskunst und große Entschlusskraft gefragt, um die Streitparteien an dieser entscheidenden Weggabelung in die richtige Richtung zu lotsen.
E-Mails an:christian.ultsch@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)