In der EU anno 2014 neue Staaten zu gründen ist anachronistisch. Doch wenn es die Schotten wollen und London zustimmt: Dann sollen sie es doch tun.
Eigentlich wirkt es auf den ersten Blick ja beinahe ein wenig seltsam. Eine der alten Demokratien Westeuropas, ein Schwergewicht im europäischen Machtgefüge, könnte bald nicht mehr das sein, was es so lange Zeit war. Geht es nämlich nach der schottischen Unabhängigkeitsbewegung, soll Großbritannien bald ein Stück fehlen. „I am not amused“, hört man da fast im Geist Queen Elizabeth II. sagen, angesichts des staatsrechtlichen Wirbels, den ihre renitenten Untertanen schlagen. Sie kann sich zumindest mit der Vorstellung trösten, dass ihre Kronländer letzten Endes nicht einen Zacken verlieren würden. Denn in Schottland will man auch nach einer Unabhängigkeit die Queen als Staatsoberhaupt behalten.
Bei aller grotesken Anmutung: Den Schotten ist es mit dem Referendum über die Unabhängigkeit vollkommen ernst. In rund 50 Tagen soll an den Urnen die Entscheidung über einen eigenständigen Weg fallen. Viele Jahre haben die Befürworter daran gearbeitet, ihren Wunsch „Los von London“ Realität werden zu lassen. Und sie bringen dafür Argumente vor, die zumindest nachvollziehbar sind: von der eigenen Geschichte bis hin zu dem Umstand, dass Schottland ohnehin ein eigenständiger Baustein im Staatsgefüge ist, der dann auch gleich herausgelöst werden könnte.
In einem anderen Teil des Vereinigten Königreichs, in Nordirland, war das Thema Abspaltung lange sogar todernst. Denn die Streitfrage, ob die Loyalität nun London gilt oder ob man sich Irland anschließen soll, war ein zentraler Grund für Terror, Straßenschlachten, staatliche Repression und für den Tod hunderter Menschen.
Der Kampf um eigene Staaten ist auch in der modernen Welt eine blutige Angelegenheit. Israels verheerende Militäraktion im Gazastreifen und die Hamas-Raketenangriffe auf Israel sind nur die schmerzhaften Symptome eines größeren ungelösten Konflikts: der Frage, ob und in welcher Form die Palästinenser endlich ihren eigenen Staat bekommen, ob extremistische Palästinensergruppen bereit dazu sind, den schon bestehenden Staat Israel anzuerkennen, und wo genau die Grenzen zwischen diesen Staaten verlaufen sollen.
Für die Idee eines unabhängigen Landes oder zumindest für mehr Eigenständigkeit haben in den vergangenen Jahrzehnten auch verschiedenste kurdische Bewegungen gekämpft, wobei sie sich massiver staatlicher Gewalt gegenübergesehen haben. Die Kurden gingen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs quasi leer aus und wurden auf die Türkei, den Iran, den Irak und Syrien verteilt. Mittlerweile haben Iraks Kurden eine eigene autonome Region. In nächster Zeit könnten sie sogar einen eigenen Staat ausrufen – was nach wie vor ein heikles Unterfangen in einer geopolitisch gefährlichen Region ist.
Der Konflikt in der Ukraine erinnert daran, dass auch noch im heutigen Europa Sezessionsbestrebungen – in dem Fall von Moskau für Machtpolitik instrumentalisiert – zu militärischen Konflikten führen können. Und schon in den Neunzigerjahren brach im Herzen Europas der Staat Jugoslawien in einer Orgie der Gewalt auseinander. Als Letzter in der Reihe erklärte 2008 der Kosovo seine Unabhängigkeit. Mit gutem Recht angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die serbische Einheiten im Kosovo begangen haben. Jedoch mit dem Schönheitsfehler, dass das – mittlerweile halbwegs demokratische – Serbien nicht damit einverstanden ist.
In demokratischen EU-Staaten wie Spanien ist es heute durch nichts zu rechtfertigen, dass mit Gewalt für mehr Eigenständigkeit gekämpft wird – so wie das lange die baskische Untergrundorganisation ETA getan hat. Hier gibt es friedliche, demokratische Mittel. Die Tschechische Republik und die Slowakei haben vorgemacht, dass eine Trennung auch ohne Krieg möglich ist.
Einen friedlichen Weg schlagen natürlich auch die Schotten ein. Trotzdem ist es völlig anachronistisch, im vereinten Europa des Jahres 2014 neue Nationalstaaten zu gründen. In einer Zeit, in der – noch – darüber diskutiert wird, wie die EU enger zusammenwachsen könnte. Doch wenn die Schotten es unbedingt wollen und es auch London akzeptiert: Bitte, dann sollen sie es doch tun.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)