Mehr Kalter Krieg als Schlafwandler

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Der Vergleich der europäischen Situation 1914 mit der aktuellen, 100 Jahre später, müsste uns optimistischer stimmen, als es die Nachrichten zulassen.

Selektive Wahrnehmung beziehungsweise Interpretation ist ein weitverbreitetes Phänomen: Das lässt sich dieser Tage beim Thema Gedenken an 1914 schön beobachten. Da lassen sich Lehren ziehen, Vergleiche anstellen und Botschaften hören, die mit der damaligen und heutigen Realität wenig bis nichts zu tun haben. Heinz Fischer, amtierender Bundespräsident, gab anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele im Zeichen des Weltkriegsgedenkens sein Credo ab: Niemals könne Gewalt eine Lösung sein, niemals würde Krieg etwas lösen. Klingt edel, nobel und gut. Nur – was war dann eigentlich ab 1938? Der Nationalsozialismus war kein Anlass für Krieg? Die Alliierten hätten demnach mit Adolf Hitler verhandeln sollen? Hatte Winston Churchill unrecht, hätte stattdessen Arthur Neville Chamberlains Appeasement-Politik den Frieden garantiert und Millionen an Menschenleben gerettet? Laut Heinz Fischer müssten wir die Weltgeschichte umschreiben.


Geschichte wiederholt sich nicht und eignet sich ganz schlecht für das Ziehen von Instantlehren und für Sonntagsreden. Selbst der großartige Historiker Christopher Clark wurde nach seiner Rede (un)absichtlich oberflächlich und genau genommen auch falsch interpretiert. Ja, er nannte die Katastrophe des Jahres 1914 „eine Mahnung, wie furchtbar die Folgen sein können, wenn die Politik versagt, die Gespräche versiegen“. Ja, er sprach von einer multipolaren Welt, die durch regionale Krisen, wachsendes Misstrauen unter den Politikern und zunehmenden Nationalismus gekennzeichnet sei. Aber seine Botschaft und klare Aussage gingen fast unter: Die Situation in Europa 1914 lasse sich mit der von 2014 nicht vergleichen. Im ernsten aktuellen Konflikt zwischen der Ukraine und dem Großteil Europas einerseits und Russland sowie ukrainischen Separatisten gebe es nämlich sehr wohl diplomatische Gespräche, Kontakte und vor allem eine politische Verhandlungsstruktur. Wenn, dann ähnle noch am ehesten die Situation im ostasiatischen Raum mit den komplexen Bündnissen und Interessenlagen zwischen China, Japan, Nord- und Südkorea, den Philippinen sowie den USA jener von 1914, die Clark in seinen „Schlafwandlern“ beschrieben hat. Das soll nicht heißen, dass der neue, alte Konflikt zwischen West und Ost in geografischer Nähe Wiens nicht gefährlich sei. Er ist es nämlich zweifellos, wie uns nicht erst seit dem mutmaßlichen Massenmord an den Passagieren und der Besatzung der holländisch-malaysischen Verkehrsmaschine bewusst ist. Zumal die Eskalation des Konflikts weitergeht: Die EU macht Ernst und startet nun mit wirtschaftlichen Sanktionen, die den Namen verdienen. Glaubt man den Kreml-Beobachtern, gibt es zudem zarte Risse in Wladimir Putins politischem Block. Wer aber glaubt, dass mit dem Verbot von Waffenexporten nach Russland Putin plötzlich völlig isoliert sei und nachgeben werde, irrt. Genau dies dürfte die eigentliche Schwäche der politischen Strategie in der Europäischen Union sein: Es fehlt ein Exit-Szenario für Putin – und wohl auch seine Verbündeten beziehungsweise Gegner in der Ukraine. Will man den Konflikt entschärfen und den Bürgerkrieg beenden, muss es eine Variante mit zumindest teilweiser Gesichtswahrung für den russischen Ministerpräsidenten geben: Das kann von einer befristeten Garantie auf den Verzicht der Ukraine auf einen Beitritt zu Nato und EU über einen Status der Neutralität bis zur vollen Autonomie der Ostukraine gehen. Oder vermutlich einer Reihe solcher Festlegungen.

Eine Waffenruhe wäre schon angesichts des unerträglichen Umgangs der Rebellen mit Beweisen und dem Tatort des Terrorangriffs auf das Zivilflugzeug das Gebot der Stunde. Putin müsste genau dies seinen Freischärlern jenseits der Grenze befehlen, Berlin und Washington müssten in Kiew ganz klar anordnen, die Kämpfe sofort einzustellen – schon um Gewissheit wegen des Anschlags zu bekommen. Der Eindruck, Europas Regierungschefs und Russland Wladimir Putin würden moderne Schlafwandler sein, ist jedenfalls falsch. Es scheint sich mehr eine politische Eiszeit auszubreiten, ähnlich jener, mit der wir aufgewachsen sind. Kalter Krieg mit militärischen Stellvertreterauseinandersetzungen. Das müsste nicht sein.

E-Mails an:rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2014)

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