Die Gefahr eines Genozids, die niemanden zu kümmern scheint

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Im Nordirak gerät die Minderheit der Yeziden ins Visier der IS-Extremisten. Doch die USA und Europa haben sich längst aus der Region abgemeldet.

Fassbomben, die ganze Häuser wegsprengen, Schwerverletzte, die ohne ausreichende medizinische Versorgung langsam dahinsterben, Gefangene, die massakriert werden. Das ist das „alltägliche“ Grauen, das das Bürgerkriegsland Syrien überzieht – ein Grauen, das in den USA und Europa mittlerweile aber kaum noch wahrgenommen wird.

Inmitten dieser endemischen Gewalt versucht eine Fraktion noch durch besondere Brutalität hervorzustechen: die Extremistenorganisation Islamischer Staat (IS), die bis vor Kurzem unter dem Namen Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) ihr Unwesen getrieben hat. IS-Kämpfer sind nicht nur in Syrien auf dem Vormarsch. Sie haben ihren Machtbereich längst auf große Teile des Irak ausgedehnt. Anhänger des gestürzten Diktators Saddam Hussein und sunnitische Stämme, die zu Recht mit Premier Nuri al-Maliki unzufrieden sind, taten sich mit dem Monster IS zusammen, um die Regierung in Bagdad in Schrecken zu versetzen. Mittlerweile hat das Monster begonnen, auch diese Verbündeten aufzufressen.

Denn in der Ideologie von IS gibt es – wie in allen totalitären Ideologien – nur einen einzigen, schmalen Pfad zur angeblichen „Wahrheit“.Jeder, der nicht willens ist, diesen Pfad zu beschreiten, gilt als Feind, der vernichtet werden muss. Im Kampf um die Macht und die Deutungshoheit in der Extremistenszene wurden von IS sogar Gruppen wie al-Nusra zu Gegnern erklärt. Al-Nusra steht dem Terrornetzwerk al-Qaida nahe, dessen Führung mittlerweile in den Augen von IS zu „kompromissbereit“ geworden ist.

Und doch gibt es in der Wahnwelt von IS noch besondere Feinde: die Schiiten – neben den Sunniten die zweite große Strömung im Islam – und die religiösen Minderheiten in der Region, wie Christen und Yeziden. Aus der nordirakischen Stadt Mosul wurden von IS bereits alle Christen vertrieben. Jetzt rücken Einheiten des Islamischen Staates in die Gebiete der Yeziden rund um die Stadt Sinjar im Nordwesten des Irak ein. Die Yeziden mit ihrer ganz eigenen Religionsform stehen schon sehr lange im Visier von Extremisten – wurden immer wieder als angebliche Teufelsanbeter verunglimpft und verfolgt. Sie müssen mit einer noch grausameren Behandlung durch IS als Christen oder Schiiten rechnen.

Einen ersten Vorgeschmack darauf gibt ein Massaker an Dutzenden yezidischen Männern, das die Jihadisten des Islamischen Staates laut kurdischen Quellen bei Sinjar verübt haben sollen. Zigtausende Menschen sind auf der Flucht. Denn sollte IS tatsächlich eine größere Zahl von Yeziden in die Finger bekommen, drohen noch massivere Massaker – ja möglicherweise sogar ein Genozid an der yezidischen Bevölkerung in der Region. Yeziden, die Glück haben, werden vielleicht „nur“ zum Konvertieren gezwungen oder vertrieben. Denn eines ist klar: Diese Minderheit und ihre Religion haben in den bizarren „Kalifats“-Fantastereien von IS keinen Platz.

Derzeit stellen sich vor allem kurdische Einheiten IS entgegen. Dabei sollen sie nun Hilfe aus Bagdad erhalten.

In Europa und den USA scheint man sich jedenfalls kaum noch dafür zu interessieren, was im Irak geschieht. Vertreibungen, Massaker an Minderheiten – das alles scheint sehr weit weg zu sein von den Entscheidungszirkeln in Washington und den EU-Hauptstädten. Und sollte ein drohender Genozid tatsächlich furchtbare Realität werden, so hat man ja wie bei Ruanda oder anderen Fällen dann noch in den kommenden Jahren Zeit, in Sonntagsreden den „schrecklichen Fehler“ zu bedauern, damals nichts unternommen zu haben.

Die US-Regierung hat sich politisch ohnehin bereits aus der Region abgemeldet. Sonst hätte sie es nicht zugelassen, dass sich die Spannungen im Irak so verschärfen, dass sie sich in einem neuen Konflikt zwischen der Regierung Maliki und sunnitischen Stämmen entladen, und dass so ein Umfeld entsteht, in dem Extremisten wie IS an Terrain gewinnen. Man hat sich im sogenannten Westen offenbar an das „alltägliche“ Grauen im Irak und in Syrien längst gewöhnt – und offenbar keine Ahnung, wie man dem politisch Einhalt gebieten soll.

E-Mails an:wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2014)

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