Nur Grenzkontrollen können in der Ostukraine Klarheit bringen

ITAR TASS LUGANSK REGION UKRAINE JULY 31 2014 A queue of cars waiting to cross the border to Ru
ITAR TASS LUGANSK REGION UKRAINE JULY 31 2014 A queue of cars waiting to cross the border to Ru(c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Es gibt kein vernünftiges Argument, sich gegen ein echtes Monitoring an der ukrainisch-russischen Grenze zu sperren – außer man hat etwas zu verbergen.

Als Wildes Feld, „dikoe pole“, bezeichnete man früher die Steppenlandschaft nördlich des Asowschen und Schwarzen Meeres. Es ist eine Gegend, die dem Angreifer keine natürlichen Hindernisse entgegenstellt. Flaches Land, durchschnitten von ein paar Flüssen. Einst konnten hier Reitervölker ihren Eroberungswillen testen. Skythen, Mongolen, Tataren und Kosaken nahmen das Gebiet stets im Sturm. Diese Zeiten sind lange vorüber. Mit der Ausdehnung des Zarenreichs wurden die Nomaden von ukrainischen und russischen Siedlern abgelöst, und das Wilde Feld erhielt einen anderen Namen: Neurussland. Seine Topografie scheint bis heute prädestiniert für Eroberungsgelüste– freilich nicht mehr zu Pferde.

Der heutige Konflikt, bei dem prorussische Separatisten gegen die ukrainische Armee kämpfen, trägt sich auf einem kleinen Teil des ukrainischen Territoriums zu. Wer leichtfertig von der Ukraine als „gescheitertem Staat“ spricht, sollte sich vergegenwärtigen, dass ein Bruchteil des Staatsgebiets – nicht einmal zwei Oblaste von 24 – unter Feuer liegt. Als heutiges Wildes Feld entpuppt sich ein etwa 100 Kilometer langer Streifen: Es ist die Grenze zwischen Russland und der Ukraine, über die die mittlerweile in die Enge getriebenen Anhänger Neu- bzw. Großrusslands nach wie vor Nachschub erhalten. Die Ukraine hat seit Wochen die Kontrolle über drei Grenzübergänge und das dahinter liegende Gebiet verloren. Zwischen den Grenzübergängen gibt es keine Hindernisse. Keinen Zaun. Nur freies Feld.

Als vor einigen Tagen britische Journalisten zufällig eine aus Russland kommende Militärkolonne aus 23 Fahrzeugen beim Grenzübertritt beobachteten, war die internationale Aufregung groß. Die kleine Beobachtung der beiden Reporter liefert wichtigen Aufschluss über das tagtägliche Business an der Grenze. Und es bekräftigt Informationen der ukrainischen Regierung, die seit Wochen über Lieferungen von Waffen und Kämpfern sowie den Beschuss von russischer Seite berichtet. Zugegeben, nicht immer hat sie überzeugende Beweise erbracht. Wie auch? Die Rede ist von einem Gebiet, das nicht von Kiew kontrolliert wird. Doch die Mär der Separatisten, dass es sich bei ihrer Kampfausstattung einzig um vom Feind „erbeutetes“ Gerät handelt, wird jede Woche, die der Konflikt andauert und an Intensität gewinnt, unglaubwürdiger. Ebenso unglaubwürdig wie Moskaus beständiges Abstreiten einer (geduldeten oder forcierten) Unterstützung der abtrünnigen Landstriche.

Seit Beginn der Kampfhandlungen ist allen Seiten klar, dass der Schlüssel zur Deeskalation (ja tatsächlich zur Beendigung!) des Konflikts in einer effektiven Grenzkontrolle liegt. Seit Wochen ist bei den Treffen der Konfliktparteien – wie zuletzt in Berlin – davon die Rede. Allein: Passiert ist bis jetzt fast nichts. Die Wünsche des Westens sind Papier geblieben. Russland hat mit seiner „Einladung“ einer Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geschickt Forderungen nach einer vollständigen Grenzkontrolle in eine genehme Richtung gelenkt. Von der Forderung einer vollständigen Beobachtermission entlang der Grenze sei ein „Feigenblatt“ geblieben, wie der amerikanische OSZE-Botschafter Daniel Baer sagte.

Seit Ende Juli sitzen 19 (!) Beobachter in den Checkpoints Gukowo und Donezk auf russischer Seite. So lobenswert es ist, dass sie Tag und Nacht beobachten, ihr Mandat ist auf das Gelände des Übergangs beschränkt. Sie berichten von Unbewaffneten in Militäruniform, die die Grenze passieren. Militärisches Gerät rollte bisher nicht vor ihren Augen vorbei. Wozu auch? Das Wilde Feld der Separatisten ist 100 Kilometer lang.

Westliche Diplomaten müssen weiter auf eine weitreichende Mission drängen. Kiew befürwortet das. Auch Moskau sollte daran Interesse haben: Ukrainische Vorwürfe über Beschuss von russischer Seite könnten endlich verifiziert werden. Sollte es von russischer Seite tatsächlich keine Hilfe für die Separatisten geben, hat man von Beobachtern nichts zu befürchten. Es gibt nur einen Grund, warum Moskau keine Kontrolle wollen kann: Es hat etwas zu verbergen.

E-Mails an: jutta.sommerbauer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2014)

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