Die neue Kommission ist eine Kampfansage an die Vormachtstellung nationaler Regierungen. Ein riskanter Akt, der die EU säubert, aber nicht reformiert.
Hätte Jean-Claude Juncker die alleinige Entscheidungsgewalt gehabt, seine Kommission würde wohl anders aussehen. Doch trotz des personellen Vorschlagsrechts der Mitgliedstaaten ist es dem designierten Kommissionspräsidenten gelungen, eine völlig neue Struktur zu schaffen. Sie muss als Kampfansage an die bisherige Vormachtstellung der EU-Regierungen interpretiert werden. Juncker hat sich sieben starke Vizepräsidenten ins Team geholt, die mit Ausnahme der Italienerin Federica Mogherini nicht dem Anspruch der großen Mitgliedstaaten entsprechen. Es ist eine persönlich ausgewählte Brigade für ein starkes Europa.
Langsam wird klar, warum seiner Bestellung in den Hauptstädten so viel Skepsis entgegengebracht wurde. Juncker ist – um bei militärischen Begriffen zu bleiben – ein politischer Partisan, der mit viel Geschick einen verlorenen Kampf in das Gegenteil verwandeln kann. Ihm war ohne Umschweife von sozialdemokratischer Seite und aus Paris signalisiert worden, dass er nur zum Kommissionspräsidenten gewählt würde, wenn er Pierre Moscovici, Frankreichs Finanzminister, das heikle Ressort des Wirtschafts- und Finanzkommissars überträgt. Für den langjährigen Euro-Gruppen-Chef war das eine Provokation. In Zeiten der Konsolidierung der bisher schwersten wirtschaftlichen Krise Europas sollte er ausgerechnet einem Politiker solche Kompetenzen übertragen, dem es in seiner Amtszeit nicht ein einziges Mal gelungen ist, die Euro-Haushaltskriterien einzuhalten. Juncker hat klein beigegeben, Moscovici aber in die zweite Reihe verbannt – mit dem Letten Valdis Dombrovskis und dem Finnen Jyrki Katainen als übergeordneten Vizepräsidenten. Und da Frankreich sich in diesem taktischen Spiel verdribbelt hat, musste im Ausgleich auch der deutsche Kommissar zurückstecken. Sieger ist Juncker, der sich vorerst einmal des traditionellen Einflusses der beiden großen Länder auf die Brüsseler Verwaltung entledigt hat.
Der ehemalige Luxemburger Ministerpräsident hat einen Vorteil: Er kennt alle taktischen Spiele im Kreis der Staats- und Regierungschefs. Und er weiß auch von den Schwächen der oft sehr eindimensionalen Machtpolitik dieser Alphawölfe. Deshalb wird er für sie zur Gefahr werden. Bereits bei der Vorstellung seines neuen Teams machte er dem Rudel klar, dass es mit der neuen Kommission keine Servicestation für ihre innenpolitischen Interessen erhält. Sein Team bestünde nicht aus Beamten, sondern aus Politikern. Die Kommission, so die nicht schwer zu dechiffrierende Botschaft, will nicht verwalten, sie möchte gestalten.
Juncker will Einfluss nehmen. Dafür habe er sich mit dem Niederländer Frans Timmermans einen „Wachhund“ zur Seite gestellt, gestand er selbst ein. Der erste und wichtigste Vizepräsident der Kommission soll für eine effizientere Regulierung, für die Rechtsstaatlichkeit und für die Einhaltung der EU-Grundrechte sorgen. Länder wie Ungarn seien davor gewarnt, nach eigenem Gutdünken europäische Werte zu interpretieren.
Fünf Jahre lang will Juncker ganz offensichtlich den Spielraum der Mitgliedstaaten einschränken, ihre unterschiedlichen Positionen in eine zielgerichtete europäische Politik umleiten. Mehr Europa soll nach seinem Willen nicht durch immer neue EU-Regeln, sondern durch eine stärkere Machtkonzentration in Brüssel entstehen.
Das klingt für Verfechter des gemeinsamen Europas gut. Aber Achtung! Hier beginnt ein riskanter Weg, dem vielleicht nicht alle in den Mitgliedstaaten folgen möchten. Großbritannien ist das erste Land, das sich abspalten könnte, und wer weiß, ob nicht andere folgen werden. Gelingt es der neuen Kommissionsführung, die Übermacht der Staats- und Regierungschefs zu brechen, ist zwar das politische Konstrukt EU wieder stabiler. Gemeinsame Verträge würden nicht mehr ausgehöhlt, umgangen oder gebogen. Aber die Bedürfnisse der Menschen werden nicht automatisch in den Vordergrund rücken. Die Umwandlung der EU von einem Selbstbedienungsladen heruntergewirtschafteter Regierungen in einen Dienstleistungsbetrieb für die Bevölkerung ist allein mit einer neuen Machtkonstellation nicht erreicht.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2014)