Zerreißprobe für die Türkei - Zusehen ist keine Option

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Recep Tayyip Erdogans kaltes Machtkalkül hat das Land zwischen alle Fronten gebracht. Der Präsident muss klar Stellung beziehen - auch militärisch.

Soll hinterher niemand behaupten, er habe nichts von dem Drama um Kobane gewusst. Rauchsäulen und schwarze Fahnen sind das Fanal einer Tragödie, die sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielt, herangezoomt von den Weitwinkelobjektiven der Fotoapparate und TV-Kameras. In Sichtweite, ein wenig mehr als einen Kilometer von der türkischen Grenze entfernt und gleichsam wie auf einem Feldherrenhügel, beobachtet ein Mix an „Zaungästen“ mit Feldstechern den Krieg um die kurdische Enklave im Norden Syriens: türkische Soldaten, die in Panzerformation Stellung bezogen haben, zum Kampf entschlossene kurdische Milizionäre, Journalisten, Flüchtlinge und Schaulustige.

Mehr oder weniger zur Untätigkeit verdammt, warten sie auf den großen Knall, den Fall der Stadt, die täglich befürchtete Eroberung durch die Halsabschneider der IS-Milizen und die unweigerlichen Folgen– ein Massaker an den kurdischen Verteidigern und der verbliebenen Zivilbevölkerung. Je dramatischer die Appelle von UN-Offiziellen und Diplomaten ausfallen, je hektischer hinter den Kulissen Staatschefs und Nato-Führer auf die Regierung in Ankara einwirken, desto mehr offenbaren sich die Schwächen der Anti-IS-Allianz und ihrer aus der Not geborenen Strategie gegen die Jihadisten. Konsens besteht lediglich darin, dass angesichts des Machtvakuums in Syrien Luftangriffe allein kein taugliches Mittel sind, ihren Vormarsch auf Dauer zu stoppen. Zu groß ist der Interessenkonflikt auf türkischer Seite, zu strapaziert sind die Beziehungen Ankaras zu den Nato-Verbündeten – im Speziellen zu den USA – und der arabischen Welt.


Recep Tayyip Erdoğans Position des Abwartens, vielfach als zynisch interpretiert, entspringt nacktem Machtkalkül. Der türkische Präsident fordert zu Recht eine umfassende Syrien-Strategie, die auch den Sturz seines Erzfeinds Bashar al-Assad inkludiert. Denn der syrische Diktator ist drauf und dran, aus dem Machtspiel als Gewinner hervorzugehen. Der Massenmörder aus Damaskus, der Giftgasangriffe angeordnet und die Opposition unterjocht hat, gilt gegenüber den Extremisten mit ihrem Konzept eines mittelalterlich-islamistischen Gottesstaats mit einem Mal als das kleinere Übel. Zugleich will die Türkei mit einer Intervention im Nachbarland nicht die autonome Kurdenregion in Syrien retten, die wie jene im Irak Vorbildcharakter für die große kurdische Minderheit im eigenen Land hat; die eigenständige Kurdenzone ist Erdoğan ein Dorn im Auge. Dafür setzt er auch die überfällige Aussöhnung mit der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aufs Spiel. Seine Gleichsetzung der PKK mit dem IS-Terror schürte den Volkszorn der Kurden, der sich zuletzt in Protesten bis nach Westeuropa entlud.

In den vergangenen Jahren hat sich Ankaras starker Mann auch und vor allem in seiner Außenpolitik in der Region vergaloppiert. Als Mittel zum Zweck, zur Entmachtung Assads, duldete er zumindest die Stärkung des sogenannten Islamischen Staats. Sympathisanten und Kämpfer des IS ließ die Türkei ungehindert über ihre Grenze passieren, mit einem mutmaßlichen Geiselaustausch erkaufte sich die Regierung kürzlich die Freilassung Dutzender türkischer Diplomaten aus der Gewalt der Jihadisten.


Noch spielt Erdoğan auf Zeit, doch der Druck nach einem Eingreifen Ankaras wird immer stärker – von innen durch die Kurden und den Flüchtlingsstrom aus Syrien wie von außen durch die Nato-Alliierten. Will Erdoğan die Türkei nicht einer massiven Zerreißprobe aussetzen, muss er jedenfalls fürs Erste zwei Maßnahmen ergreifen: die Grenze nach Syrien für die kurdischen Kämpfer öffnen und die Luftwaffenbasis Inçirlik für Angriffe gegen den IS zur Verfügung stellen. Und notfalls seinen Truppen den Einsatzbefehl erteilen. Sein Regierungschef, Ahmet Davutoğlu, signalisierte zumindest rhetorisch bereits ein Einlenken: „Wir können nicht ein Zuschauer sein.“

Dies ist der Stand der Dinge, ob es Recep Tayyip Erdoğan ins Konzept passt oder nicht: Der Kampf gegen die IS-Jihadisten hat Priorität, jener gegen das Assad-Regime ist allenfalls sekundär. Das enthebt Barack Obama und Co. nicht aus der Verantwortung, in einem zweiten Kraftakt den Bürgerkrieg in Syrien zu stoppen. Sie haben lange genug zugesehen.

E-Mails an:thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2014)

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