Eine Reise ohne Plan oder: Der Umweg ist das Ziel

Der Bildungspolitik und den Schulversuchen liegt der gleiche Gedanke zugrunde: Irgendetwas Neues muss her. Hauptsache, das Alte ist weg.

Das Alte taugt also nicht mehr. Daher muss etwas Neues her. Wer wie der Autor dieser Zeilen seine eigene Schulzeit in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts als etwas durchaus Gewinnbringendes erlebt hat – mit Frontalunterricht und echten Noten –, stellt sich allerdings seit Längerem die Frage: War doch nicht so schlecht früher? Warum muss man das mit Bestemm unbedingt ändern?

Weil die Welt sich geändert hat, könnte eine Antwort lauten. Ja, eh. Aber die Anpassung an eine sich ändernde Welt lässt sich gerade an unserem Schulsystem eher nicht ablesen. Unterricht in Volkswirtschaft oder Betriebswirtschaft findet an den Gymnasien nach wie vor nicht statt. Dabei ist diesbezügliches Wissen in der heutigen Berufswelt essenziell. Dafür wird in den meisten Gymnasien nach wie vor Latein gelehrt – anstatt einer lebendigen Sprache, die einem im Berufsalltag dann auch etwas nützt. Oder zumindest auf Urlaubsreisen. Anpassung an die Welt? Das Gymnasium jedenfalls ist noch immer ein wenig weltfremd.

Dennoch, so heißt es, könne es so nicht mehr weitergehen. Weil: die Chancengleichheit! Natürlich soll in einer meritokratischen Gesellschaft in erster Linie die Leistung des Einzelnen entscheidend sein, und nicht dessen Herkunft. Natürlich soll das türkische Migrantenkind die gleichen Möglichkeiten haben wie das Döblinger Bürgerkind.

Nur: Der Staat kann das schwer verordnen. Ja, er kann eine Gesamtschule einführen. Allerdings werden die Eltern des Döblinger Bürgerkindes Mittel und Wege finden, ihr Kind in eine bessere Gesamtschule gehen zu lassen. Was ja ohnehin schon stattfindet. Und das türkische Migrantenkind sitzt dann erst recht in der öffentlichen „Ghettoklasse“ unter all jenen, deren Eltern sich das Schulgeld nicht leisten können.

Wobei – und das muss auch einmal betont werden – die (meisten) Pädagogen vom Kindergarten aufwärts bei der Integration der „neuen Österreicher“ einen wirklich tollen, weil nicht einfachen Job machen. Dass es bei uns keine wirklichen Ghettos wie in anderen westeuropäischen Ländern gibt, ist auch darauf zurückzuführen. Die duale Ausbildung, sprich die Wertschätzung, die die Lehre hierzulande genießt, ist ein weiterer Grund dafür. Nicht jeder muss studieren, nicht jeder mit Gewalt durch das höhere Schulsystem geboxt werden. Man kann tatsächlich auch Karriere mit Lehre machen.

Diese absolute Gewissheit, mit der Sozialdemokraten und Grüne davon ausgehen, dass, wenn die Gesamtschule erst einmal eingeführt ist, alle Probleme sich von selbst lösen, ist jedenfalls atemberaubend. Ein Blick nach Deutschland beweist das Gegenteil. Länder mit einem differenzierten Schulsystem schneiden stets besser ab.

Das Alte muss also weg. Etwas Neues her. Allerdings: So genau weiß dann doch keiner, was am Ende der Reise stehen soll. Man fährt einfach einmal drauflos. Ein Schulversuch hier, eine Modellregion da. Allein an österreichischen Pflichtschulen und Gymnasien laufen derzeit mehr als 3500 Schulversuche. Flächendeckend umgesetzt wurde bisher kaum einer. Eine Ausnahme gibt es: die Zentralmatura. Wobei man jetzt auch nicht so genau weiß, ob man diese Ausnahme rühmlich oder eher unrühmlich nennen sollte.

Der Bildungsbürger könnte an dieser Stelle jetzt Giuseppe Tomasi di Lampedusas Diktum „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert“ einwerfen. Im besten Fall läuft es auch darauf hinaus. Angesichts des Fehlens einer zielführenden Strategie, von Vision gar nicht zu reden, kann man nur hoffen, dass dieses Konglomerat aus Learning by Doing und Trial and Error am Ende ein Ergebnis zeitigt, mit dem das bisherige Level halbwegs zu halten ist.

Und möglicherweise wird der eine oder andere Bildungsexperte in einigen Jahren, wenn dann alles durchgespielt und ausprobiert ist, ohnehin im Brustton der Überzeugung verkünden, dass Frontalunterricht und echte Noten eigentlich der Weisheit letzter Schluss sind.

E-Mails an:oliver.pink@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2014)

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