Auch wenn das wenig tröstlich ist: Die Wahnsinnstaten einzelner Attentäter wie in Ottawa werden nie völlig zu verhindern sein.
Der Schock sitzt tief. Denn viele Kanadier haben nicht erwartet, dass das bei ihnen passieren könnte. Zwar beteiligt sich Kanada seit Jahren an verschiedensten Militäroperationen – vom Krieg in Afghanistan bis hin zum derzeitigen Einsatz gegen die IS-Extremisten. Aber Terroranschläge im eigenen Land wollte niemand so recht für möglich halten.
Jetzt sind die Attentate da. Und sie wirken eher wie die Amokläufe einzelner, aus der Spur geratener Personen als organisierte politische Gewalt. Zunächst überfährt ein Mann mit dem Auto zwei Soldaten und verletzt einen davon tödlich. Und wenige Tage später attackiert ein junger Mann das Parlament in Ottawa und erschießt einen Soldaten. Beide Attentäter dürften sich mit jihadistischem Gedankengut beschäftigt haben. Der Angreifer von Ottawa wurde darüber hinaus von Bekannten als geistig verwirrt beschrieben.
Die Grenze zwischen tatsächlichen politischen Zielen und purem Wahnsinn scheint bei diesen Taten zu verschwimmen. So wie schon in London im Mai 2013, als ein Soldat am helllichten Tag mitten auf der Straße mit einem Schlachtmesser ermordet wurde. Oder bei den völlig bizarren Attentatsplänen australischer Extremisten, die zufällig vorbeikommende Passanten enthaupten wollten. Egal, wie viel Ideologie oder Irrsinn all diese Täter leitete – ihre Aktionen sind brutal, unvorhersehbar und können gleichsam jeden treffen. Und das macht umso mehr Angst.
Doch wie umgehen mit dieser Furcht? Dramatische Ereignisse wie die von Ottawa sorgen meist reflexartig für Forderungen nach intensiverer polizeilicher Überwachung. Gute Aufklärung ist essenziell im Umgang mit potenziellen Attentätern. Doch diese Maßnahmen stoßen auch an ihre Grenzen.
Der Angreifer von Ottawa war bereits amtsbekannt. Vielleicht begingen die Behörden Fehler und unterschätzten die Gefahr, die von dem jungen Mann ausging. Doch wie auffällig benahm er sich vor der Attacke auf das Parlament? Hätte er sich mit anderen unter Beobachtung Stehenden zu geheimen Gesprächen getroffen, mit seinen Komplizen Sprengstoff und Waffen in Lagerhallen gehortet und zudem größere Geldbeträge von verdächtigen Quellen außerhalb Kanadas bezogen– dann hätte möglicherweise das Alarmsystem der Behörden rechtzeitig angeschlagen.
Doch um mit einer Waffe zum War Memorial in Ottawa zu fahren, dort einen Soldaten zu erschießen und dann weiter zum Parlament zu ziehen: Dafür bedarf es keiner besonderen Vorbereitungen, die die Aufmerksamkeit der Polizei erregen könnten. Selbst wenn der Attentäter von Ottawa rund um die Uhr überwacht worden wäre – bei der Zahl von Verdächtigen ohnehin ein kaum zu bewältigender logistischer Aufwand –, wäre seine Tat trotzdem nur sehr schwer zu verhindern gewesen.
Der Nachbar USA setzt schon seit vielen Jahren auf ein weitaus ruppigeres Vorgehen als Kanada. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 durften zunächst Personen nur auf groben Verdacht hin auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden. Und ohne Rücksicht auf Privatsphäre und Bürgerrechte werden nach wie vor in gigantischem Ausmaß Telefongespräche und E-Mail-Verkehr der Bürger überwacht. Zwar wurden laut Washington damit Terrorangriffe vereitelt. Doch den beiden Brüdern, die quasi im Alleingang 2013 einen Sprengstoffanschlag auf die Teilnehmer des Boston-Marathons verübt hatten, kam man damit trotzdem nicht auf die Schliche.
"Einsamen Wölfen", die allein oder in Kleinstgruppen aktiv werden, glückt es immer wieder, ihre Vorhaben auch vor einem gewaltigen Sicherheitsapparat zu verbergen. Massivere Polizeimaßnahmen würden daran wohl wenig ändern.
Vor allem würden sie das sensible Gleichgewicht zwischen den Gütern Freiheit und Sicherheit endgültig aus der Balance bringen. Die Stärke einer Demokratie zeigt sich darin, dass auch in Krisenzeiten Bürger- und Menschenrechte nicht zur Disposition stehen. Daran darf auch die Angst nichts ändern, die Attentäter wie jene von Ottawa verbreiten. Und auch wenn das wenig tröstlich sein mag: Solche Wahnsinnstaten Einzelner werden nie völlig zu verhindern sein.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2014)